Rudolf 5eydel in Leipzig.
§36
Hier haben wir die Antwort auf die alte, oft mit so viel Verdammungslust und armseliger Abwägung äußerlicher Dinge und kleiner Einzelzüge behandelte Frage nach Goethes Stellung zum Christenthume. Goethe hat mit vollem Bewußtsein die Aufgabe des protestantischen Christenthums zur seinigen gemacht, das Religiöse mit den Lebensgütern humaner Cultur zu Einem, in sich einheitlichen, harmonischen Lebensideale zu verschmelzen. Er setzt in diesem Sinne die Reihe der Männer fort, welchen wir in erster Linie die immer vollere irdische Verwirklichung, die immer eigentlichere Fleischwerdung des christlichen Geistes verdanken. Wenn diese Reihe von Luther aus durch die Pietisten zu Lessing führte, so sind es Herder und Goethe, die in derselben zunächst aus Lessing folgen. Darum erinnert uns der Plan des Gedichts „Die Geheimnisse" so unausweichlich an Lessing's Nathan und zugleich au Herder's anerkennendes Verständniß des Ureigenen aller Völker und Culturweisen der Menschheit. Das Gedicht sollte die Anwendung jenes Goethe'schen Ideals direct auf das religiöse Bewußtsein und kirchliche Leben zum wirksamsten Ausdrucke bringen. Die Religion, die sich mit Humanität durchdringt, oder richtiger, die selbst erst dadurch volle Religion wird, daß sie zugleich volle Humanität wird, — sie kann nicht mehr an der verdammenden Ausschließlichkeit historisch begrenzter Sonderkircheu festhalten; sie muß liebend und achtend das Göttliche aus allen seinen Spuren erkennen, es gern und entgegenkommend hervorheben, und den wahrhaft religiösen und sittlichen Kern unter jeder nationalen Verhüllung und „sei es auch in noch so wunderbarer Gestalt" zu entdecken und zu verehren wissen. Lessing hatte das in diesem Sinne hervorzuhebende Allgemeine der Religion in einfach menschlicher Güte und Rechtschaffenheit gesunden und nur in eben dieser Allgemeinheit bei den Bekennern der verschiedensten Glaubenssysteme ausgesucht. Goethe, in Herders Fußstapfen wandelnd, fügt den überaus solgereichen Gedanken hinzu, daß die verschiedenen Culturvölker der Erde durch verschiedene Artung von Haus aus und für immer die Bestimmung erhalten haben, das Göttliche und Gottmenschliche in verschiedenen Formen auszuprägen, ihr Individuelles nicht schlechthin um des Allgemeinen willen zu kreuzigen, sondern dein harmonisch gefügten bunten Kranze des Gottesreichs, der alle höchsten Blütchen des Menschenthums in sich verknüpfen soll, es bescheiden am rechten Orte einzuslechten. Unterordnung unter das Ganze, Ueberwindung jedes egoistischen Sondergeistes, Beherrschung der Natur durch den Geist, wird dann immer noch ihnen allen gemeinsam das Kreuz bedeuten, und in diesem Sinne werden sie alle gemeinsam zu ihm emporschauen; aber indem aus der Unterordnung und Ueberwindung die Alle perknüpfende und beglückende Liebe hervorsproßt, und indem die vom Geiste beherrschte Natur sich im Gemüths- und Geistesleben selbst zu einer verklärten, geheiligten, wiedergeborenen Natur umgestaltet, die nur um so herrlichere Gaben darreicht, so werden sie ,,von neuem Sinn durchdrungen, wie sich das Zeichen hier vor Augen stellt: sie seh'n das Kreuz von Rosen dicht umschlungen".