Heft 
(1880) 40
Seite
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Rudolf Seydel in Leipzig.

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Hegel nennt gelegentlich in seinenGrundlinien der Philosophie des Rechts" von 1820 (in der Vorrede; Werke VIII. S. 19) die Vernunft die Rose im Kreuze der Gegenwart: durch Vernunft, meint er, würde alles Leid und Uebel ausgehoben, indem der Vernünftige erkennen werde, daß es im großen Zusammenhänge des Universums kein Uebel gebe, sondern Alles seine im höchsten Sinne berechtigte Stelle einnehme; so opfere auch der Vernünftige seine subseetive Freiheit gern dein großen Ganzen auf und gewinne dadurch erst die wahre Freiheit. Die Aufhebung des Leides, die Versöhnung, den Frieden verheißt hier der Philosoph als den Ertrag einer begreifenden Er- kenntniß; ein Dichter dagegen verheißt uns unter dem gleichen Symbol die gleichen Segnungen als Endziel der menschlichen Culturarbeit, als Frucht von Jahrtausenden qualvollen Ringens und feindseliger Kämpfe. Es ist Anastasius Grün in seiner schönen ParabelFünf Ostern" (enthalten in seinen unter dem TitelSchutt" 1835 veröffentlichten Dichtungen). Er erzählt uns, daß nach einer orientalischen Sage Christus jährlich am ersten Ostermorgen auf dem Oelberg erscheine, um die Stätten seines Leidens und Wirkens wiederzusehen; fünf solcher Besuche werden uns geschildert, deren letzter jedoch von der Phantasie des Dichters aus ferner Zukunft voraus­erschaut ist, während die anderen in der Vergangenheit liegen. Der erste zeigt die Verwüstung des heiligen Landes nach Jerusalems Zerstörung, der zweite die Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer, der dritte die Herrschaft des Islam, der vierte den Streit der christlichen Seelen am heiligen Grabe. Dagegen entrückt uns am fünften Ostern der Dichter in ein idyllisches, glückliches Familien-Daheim ferner Zeiten, das sich aus dem Berge Golgatha Raum geschaffen; spielend graben die Kinder einen eisernen Gegenstand aus, den weder sie, noch die Eltern, noch die Nachbareu erkennen, auch nicht der älteste Greis.

Wohl ihnen allen, daß sie's nimmer kennen!

Der Ahnen Thorheit, längst vom Grab verzehrt,

Müßt' ihnen noch im Aug' als Lhräne brennen!

Denn, was sie ausgegraben, war ein Schwert!"

Sie bestimmen es zur Pflugschaar. Ein anderes Mal stößt der Spaten der Arbeitenden auf ein Steingebilde von räthselhafter Form; Niemand kann es deuten.

Ob sie's auch kennen nicht, doch stehts voll Segen Aufrecht in ihrer Brust, in ewigem Reiz,

Es blüht sein Same rings auf allen Wegen,

Denn, was sie nimmer kannten, war ein Kreuz!

Sie sah'n den Kampf nicht und fein blutig Zeichen;

Sie sah'n den Sieg allein und seinen Kranz!

Sie sah'n den Sturm nicht mit den Wetter streichen, Sie sahn nur seines Regenbogens Glanz!