liberalen Juden bereits Enkel und Urenkel orthodoxer Vorfahren sind, vom überlieferten positiven Judentum also nur noch eine ganz blasse Ahnung haben. D as l iberale Judentum hat nun zwar das überkommene Gebäude des Judentums fast ganz abgetragen, hat aber, trotz wiederholten Bemühens, an dessen Stelle nichts Gescheites zu errichten vermocht, so daß sich sein Verhältnis zum Judentum in einer bloßen Negation des Überlieferten wesentlich erschöpft. Und hierin gipfelt auch das religiöse Bewußtsein der meisten liberalen Juden. In religiöser Hinsicht darf das Paradoxon ruhig ausgesprochen werden: Das religiösjüdische Bewußtsein der liberalen Juden, wenn ein solches überhaupt noch vorhanden ist, besteht in dem Bewußtsein, daß sie keine richtigen Religionsjuden mehr sind. Dieses Bewußtsein erfüllt sie zuweilen mit einer gewissen Wehmut, regt sie zuweilen an, gegen die überlieferte Religion sarkastisch zu werden, oder läßt sie nicht selten überhaupt kalt.
Es gibt in Deutschland viel mehr liberale als orthodoxe Juden. Zwischen beiden stehen die schwankenden Gestalten der konservativ gestimmten Juden. Es sind das Juden, in denen weder die Energie der Bekennerschaft noch die Energie des Abschüttelns vorhanden ist; Juden, deren Haushalt einigermaßen koscher geführt wird, die aber außerhalb ihres Hauses sich keinerlei Beschränkungen auferlegen; Juden, die ihr Geschäft zwar am Sabbat schließen, den Geld bringenden Postboten aber gleichwohl empfangen und einen drängenden Kunden wohl auch „hintenherum" bedienen.
Sie finden sich vielfach an mittleren und kleinen Plätzen, in Großstädten nur, soweit sie eben „vom Lande" eingewandert sind. Ihre Söhne fallen, von seltenen Ausnahmen abgesehen, natürlich dem unbeschränkten Liberalismus in die Arme.
Endlich die ortbodoxen Jude n. Sie anerkennen heute noch die unbedingt verpflichtende Kraft des Religionsgesetzes. Jeder von einer jüdischen Mutter Geborene gilt ihnen dem jüdischen Religionsgesetz untertan und sein dem Religionsgesetz zuwiderlaufendes Verhalten als Unrecht.
Die herkömmlichen Unterschiede zwischen Orthodoxie und Liberalismus, wie sie z. B. in der protestantischen Kirche ausgeprägt sind, erscheinen sehr ungeeignet, das Verhältnis
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