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Judenproblem / von I. Breuer
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zwischen den orthodoxen und den liberalen Juden auch nur einigermaßen zu kennzeichnen. Die liberalen Protestanten haben in ihrer Weise die christlichen Glaubenstatsachen und Glaubenssymbole zu vertiefen gesucht und Anschauung gegen Anschauung gestellt. Ihr Wer k war kein eigentliches Werk der Zerstörung, sondern vielfach geradezu der Neubelebung, der Erhaltung. Sie konnten zudem immer wieder auf die monumentale Gestalt ihres Luther zurückgreifen, der nun einmal jedem Christen freien Zutritt zum Bibelwort ver­schafft und dem Recht der Persönlichkeit für immer eine breite Bahn gebrochen hat. Endlich ist der Protestantismus im wesentlichen eine sich an die Gesinnung wendende Lehre, die die Tat jederzeit von neuem aus der Lehre frei erwachsen läßt.

Von alledem ist aber im Judentum keine Rede. Dem Judentum, auch dem deutschen Judentum, ist bis zum heu­tigen Tag noch kein Luther erstanden. Zwischen den ortho­doxen und den nichtorthodoxen Juden steht der ungeheure Komplex des Religionsgesetzes. Nach überlieferter Zäh­lung enthält es 613 in Worten: sechshundertunddreizehn! Ge- und Verbote, die aber in Wirklichkeit, wie ein ober­flächlicher Blick auf die literarisch angesehenste Zusammen­fassung des Religionsgesetzes, den sogenannten Schulchan Aruch sofort zeigt, in zahllose, ins tätige Leben unendlich tief eingreifende Paragraphen zerfallen. Das wesentlich der Erörterung des Religionsgesetzes gewidmete Quellenwerk des Talmud ist so unermeßlich groß, daß ein ganzes, von emsigster Arbeit erfülltes Forscherleben zu seiner Bewälti­gung nicht ausreicht. Dieses Gesetz legt sich göttliche Ver­pflichtungskraft bei und verlangt den von der individuellen Überzeugung gänzlich unabhängigen Gehorsam der Tat. Macht man aber den Gehorsam von der Überzeugung ab­hängig und legt an die einzelnen Bestimmungen des Gesetzes den subjektiven Maßstab der Überzeugung, so entwurzelt man das Gesetz im ganzen und wandelt es im besten Falle in eine Lehre um, die man annimmt, soweit sie zeitgemäß ist und die man verwirft, soweit sie veraltet erscheint.

Moses Mendelssohn war sich des Unterschieds zwischen Gesetz und Lehre, zwischen dem Gehorsam der Tat und der freien Überzeugung vollkommen bewußt. SeinJerusa-