orthod oxen Jud en untersteht dem jüdischen Gesetz. Das Leben des nichtorthodoxen Juden untersteht in sittlicher Hinsicht lediglich — ihm selber. Das Judentum des nicht- orthodoxen Juden — Judentum hier als Religion genommen — ist, soweit es noch vorhanden, der Inbegriff etlicher Lehren, aus denen er selber die Folgerungen zieht, die ihm die richtigen scheinen; im günstigsten Falle bringt es ihm auch noch einige religiöse Handlungen, die er vollführt, soweit sie ihm sympathisch sind. Das Judentum des orthodoxen Juden ist aber ein Gese tzbuch, das nicht eine einzig e Seite des menschlichen Lebens unberührt läßt, das unsäg- liche Opfer an Persönlichkeit, Vermögen, Zeit erfordert und seinem ganzen Wesen nach in einem Anspruch gipfelt, der dem nichtorthodoxen Juden vollkommen unbekannt ist: dem Geho rsamsanspruch.
Reformieren läßt sich nur eine Lehre. Aber ein Gesetz läßt sich nur aufheben. D ie Lehre kann reformiert werden von jedem, der es besser zu wissen oder richtiger zu verstehen glaubt. Aber ein Gesetz kann nur von zuständiger Stelle aufgehoben oder, was gleichbedeutend, geändert werden. An der Frage der Kompetenz ist bis jetzt noch jede Reform im Judentum gescheitert.
Die ersten Christen, die noch Juden bleiben wollten, wußten sehr wohl, was sie taten, als sie laut erklärten, sie seien nicht gekommen, das Gesetz aufzuheben oder zu ändern, ihr Ziel sei nur eine eindringlichere, geläuterte Formulierung der Lehre. Mit dem Moment, als sie das Gesetz antasteten, hatten sie die Trennung vom Judentum vollzogen.
Die deutsch-jüdischen „Reformer" nach Mendelssohn, die lutherischen Beruf in sich verspürten, haben es umgekehrt angepackt. Sie haben die Lehre des Judentums zunächst unangetastet gelassen, haben am Anfang nicht einmal den Anspruch erhoben, sie irgendwie zu verinnerlichen oder gar zu bereinigen, und haben statt dessen sich mit ungeheurer Schärfe gegen das Gesetz gekehrt. Der Erfolg konnte nicht ausbleiben. Sie haben das Judentum nicht reformiert, sondern haben lediglich den Typ der jüdischen Gesetzübertreter — „Poschim" nennt sie mit Recht der orthodoxjüdische Sprachgebrauch — geschaffen. Das ist nicht Auf-
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