Druckschrift 
Judenproblem / von I. Breuer
Seite
38
Einzelbild herunterladen

hat ihr vorgeworfen, sie treibe unklare Schwärmerei und suche längst erstorbenes Leben künstlich zu erwecken.

Derlei Einwände bedürfen im Grunde keiner Wider­legung. Was hier vorliegt, ist im besten Falle ein leerer Wortstreit. Es ist ja gar nichts dagegen einzuwenden, wenn sich jemand darauf versteift, nur eine^seßhafte Menschen­einheit Nation zu nennen. Sei's drum. Aber der Aufgabe ist er damit noch keineswegs enthoben, den Sinn einer Menscheneinheit zu deuten, die keinerlei Organisation zu­sammenhält und die dennoch nichts weniger als eine bloß begriffliche Einheit ist, sondern durch eine geschichtliche Syn­these entstand, die dem Wechsel der Zeiten und Räume bis zum heutigen Tage Trotz geboten hat. Darin besteht ja gerade der wissenschaftliche Wert der zionistischen Theorie,

daß sie das Judenproblem von dem Rassengefasel und dem Schleier der Religionsgemeinschaft als Bekenntniseinheit befreit und auf den Boden gestellt hat, von wo es allein er- faßt und begriffen werden kann: auf den Boden der Ge- schichte.

Man erschöpft die Juden weder durch Zergliederung ihrer somatisch-psychischen Eigenheiten noch durch religions- wissenschastliche Betrachtungen. Beide Methoden können ihnen nicht gerecht werden, weil sie auf dem Wege einer ganz unzulässigen Abstraktion höchstens eine einzige Seite ihres Wesens berücksichtigen, dagegen vollkommen außer acht lassen, die Juden in ihrer Totalität als das zu nehmen, was sie tatsächlich sind: ein geschichtliches Phä- nomen.

Seit den Tagen des Titus haben die Juden niemals aufgehört, geschichtlich zu sein. Bei aller Treue, die sie, wie die Geschichte gleichfalls bezeugt und wie es zudem eine klare Bestimmung des jüdischen Religionsgesetzes anordnet, ihren Wirtsvölkern stets entgegengebracht haben, konnten sie sich gleichwohl niemals restlos mit der Geschichte ihrer Wirts­völker identifizieren, haben vielmehr stets die Erinnerung an ihre eigene geschichtliche Vergangenheit gewahrt und die Hoffnung auf eigene geschichtliche Zukunft gehegt. DiL.Ost- goten in Italien sind geschichtlich verschollen. Aber die Juden sind es nicht. Vom Jahre 70 an lassen sich die Hauptstraßen, die sie eingeschlagen haben, überallhin ver-

38