daß der Völkerbezwinger mit starker Hand ihnen die Tore des Ghettos entriegelte und einen warmen Strahl, der Frei- heitssonne in ihre dunklen Gäßchen fallen ließ? Und wird eine spätere Zeit einst von dem seelischen Aufschwung künden, der im Weltkrieg das deutsche Volk die Gegensätze der Parteien vergessen ließ: kann sie es unterlassen, wenigstens in einer Anmerkung dem Gedächtnis aufzubewahren, daß. damals in Deutschland die Juden — gezählt worden sind?
Die zionistische Theorie stellt natürlich nicht in Abrede, daß die jüdische Nation durch den Verlust des Staates und namentlich durch den Verlust der Heimat zu schwerem Schaden gekommen ist. Niemand hat schärfer als sie darauf hingewiesen, und die zionistische Praxis will ja nichts anderes als eine Heilung des Schadens erstreben. Man wandert nicht ungestraft zwei Jahrtausende über die Erde. Die Juden haben in mancher Hinsicht — durchaus freilich nicht in jeder! — ihre lebendige Volkssprache eingebüßt. Es war auch gar nicht zu vermeiden, daß sie sich, nach ihrem jeweiligen Aufenthalt, in Landsmannschaften gliederten, die deutlich den Einfluß ihrer Umgebung widerspiegeln. Der deutsche Jude unterscheidet sich von dem russischen, dieser von dem polnischen und dieser wieder von dem ungarischen in beachtenswerten Beziehungen. Es ist nicht nur der Bildungsgrad, der in den leicht festzustellenden Unterschieden zum Ausdruck kommt, sondern auch das Temperament, die Charakter- und Gemütsanlage. All dem verschließt sich die zionistische Theorie keineswegs. Da aber trotz des Zerfalls in einzelne Landsmannschaften das Einheitsbewußtsein der Juden nicht zerstört worden ist, vielmehr alle territorialen Hemmungen siegreich überwunden hat, so kann der Zionismus in den Folgeerscheinungen dieser Hemmungen nur Krankheitsformen erblicken, die sich am Körper der jüdischen Nation im Laufe der Zeit entwickelt haben.
In der Tat, die jüdische Nation ist krank, sogar schwer krank. Es sind nicht einmal in erster Linie die Weitgehenden territorialen Verschiedenheiten, die ja letzten Endes nur zu einer unerhörten Bereicherung und Universalisierung des jüdischen Genies geführt haben. Aber zwei Wetterwolken standen bei Beginn des Weltkrieges am Himmel der jüdischen Nation: die Verelend ung im Osten und die Auf-
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