begreift er, nur die Melodie spricht zu ihm, aber die Worte, die er vernimmt, reden in unverstandener Sprache. Da erfaßt ihn die Sehnsucht, die Sprache seiner Seele zu verstehen, und die Erfüllung dieser Sehnsucht deucht ihm seines künftigen Lebens köstlichstes Ziel. Nur das Volk dieser Sprache ist sein Volk, und nur dies Volk kann ihm das Geheimnis seiner Seele deuten. Da bricht in ihm der Quell der Liebe auf und schwillt zum mächtigen Strome an, der ihn und tausend andere erfaßt. Da breitet er voll namenlosen Glückes die Arme aus und ruft den letzten jüdischen Bettler als Bruder ans Bruderherz. Theodor Herzl ist kein Heimatloser mehr. Er hat den Weg zu seinem Volk gefunden.
Nun hebt für ihn ein neues Dasein an. Er schaut rück- wärts und begreift mit Schaudern, wie nahe er daran gewesen, sein Volk und damit sich selbst für immer zu verlieren? Er schaut neben sich und sieht, wie die Gefallenen seines Volkes, ungetauft und getauft, in ungezählter Zahl als Kulturdünger den Boden Westeuropas decken. Er schaut unter sich, und an sein Ohr dringt aus den Niederungen der Menschheit der erstickte Hilferuf der Entrechteten und Geknechteten, der ewig Wandernden, der ruhelos Gejagten? der wie die Pest Verfemten, der Hilferuf seiner Brüder, denen die Sprache heilig ist, in der seine Seele klingt. Da vollführt er die Tat seines „Judenstaates".-
Das Einheitsbewußtsein, das in Herzl zu plötzlich sieg- haftem Durchbruch kam, konnte nur ein nationales sein. Von der jüdischen Religion wußte er fast nichts, und die Einfalt- der Rassentheorie reichte an ihn nicht heran. Seine eigene, persönliche Erfahrung, daß und wie er den Weg zum Judentum zurückgefunden, war ihm unumstößlicher Beweis für die Nationalität des Judentums. In seiner fundamentalen Unkenntnis der jüdischen Religion und in seiner unendlichen Liebe zum Juden ward er der erste bewußte National- jude.
Aber dabei blieb er nicht stehen. Seine Liebe, die das Judentum als Religion nicht kannte, galt ausschließlich den jüdischen Menschen, zu denen das Geheimnis seiner Seele ihn trieb. Er sah sie leiden seit den Tagen, da Titus ihnen den Staat geraubt. Er sah sie an Körper und Cha-
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