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Judenproblem / von I. Breuer
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rakter durch die Unnatur der Verhältnisse bedroht, in denen sie, ohne Staat und ohne Land, zerstreut und doch gesondert, machtlos und doch gefürchtet, seit Jahrhunderten ihre Eigen­art fristeten. Die politische Katastrophe des Jahres siebzig erschien ihm als die Wurzel des ganzen Jammers. Die Sinnwidrigkeit einer nationalen Existenz zwischen Himmel und Erde erfaßte sein in Westeuropa geschulter Geist mit geradezu qualvoller Klarheit. Aber so groß war der Mann, daß er selbst dieser Klarheit nicht erlag, sondern gerade aus ihr die Erkenntnis eines bisher ungegangenen Weges schöpfte, eines Weges von solch unermeßlicher Kühnheit, wie nur das Genie ihn entdecken und nur die flammende Liebe ihn gangbar halten kann.

Titus ist der Schöpfer der Judenfrage. Also ist die Judenfrage eine politische Frage. Über die Jahr­hunderte hinweg reicht Theodor Herzl dem Sternensohn die Hand und geht selber am ewig finsteren politischen Nacht­himmel der jüdischen Nation als funkelnde Hoffnung auf. Der erste Nationaljude wird zum ersten politischen Juden.

Theodor Herzl wendet sich an seine Juden und deutet ihnen ihr Leid: Land und Staat habt ihr verloren und könnt erst genesen, wenn ihr beides wiederhabt. Was nützt es euch, um Gleichberechtigung zu betteln, da ihr niemals Gleich­achtung erringen könnt? Gleichberechtigt seid ihr im besten Falle als einzelne, aber Verachtung trifft euch als Nation, die wie eine Schlingpflanze sich um die anderen Nationen schlingt und jeder Jätung spottet. Vergebens sucht ihr durch immer neue Geldopfer die Wunden zu heilen, die man tag täglich euch schlägt. "Euch steckt der Speer im Leibe, und solange ihr ihn mit euch herumschleppt, bleibt ihr wund und siech. Was hat euch denn aufrechterhalten in all den Zeiten des Jammers, und was hat euch den Mut gestärkt, einer Welt zum Trotz in Sonderung zu verharren? Es war die Hoffnung auf eure nationale Zukunft, die ihr niemals ver loren, und es war der Glaube an eure nationale Mission, die euch kein Titus hat rauben können. Aber die Hoffnung und der Glaube, sie haben euch nur im Dulden erhöht und um eure Stirn eine Märtyrerkrone geflochten, wie sie kein zweites Volk auf Erden trägt. Ich aber sage euch: Dulden ist groß, Handeln ist größer. Ihr habt den Mut des Han-

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