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Judenproblem / von I. Breuer
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daß im jüdischen Zukunstsstaat absolute Trennung von Staat und Kirche selbstverständliche Voraussetzung und Grundlage bilden werde. Gewiß: die der Assimilation mit knapper Not entronnenen zionistischen Wortführer empfanden eine oft bis ins Romantische gesteigerte Sehnsucht, Näheres von der uralten Nationalreligion des Judentums zu er­fahren, für die ihre Ahnen in schauerlicher Todesbereitschast gelebt und gelitten, und ihr Herz ging ihnen auf, wenn sie den wunderbaren Einklang entdeckten, in dem das unter ganz anderen, im Grunde genommen rein individuellen, Voraus­setzungen neugewonnene Ideal ihrer Seele zum zweitausend­jährigen Väterideal stand, wie es die Propheten verkündet und die Schriften verbrieft hatten. In solchen Augenblicken mochte wohl Theodor Herzl, von der Tiefe seiner Empfin­dung hingerissen, im orthodoxen Gotteshause den mit den Zeichen des Gesetzes geschmückten Mantel, wie ihn Moses im fünfzehnten Kapitel des vierten Buches vorschreibt und wie er heute noch von allen orthodoxen Juden getragen wird, sich um die Schultern legen und vor der geöffneten Thorarolle, er, der gefeierte Westeuropäer, den uralten Segensspruch sprechen:Gesegnet seist du Gott, unser Gott, König der Welt, der uns erwählt hat von allen Völkern und uns gegeben hat Seine Thora" - : in solchen Augen­

blicken mochte er wohl wähnen, daß die Glut seines Herzens zusammenschlage mit den Flammen, die die jüdische Nation seit Urbeginn umlodert, daß er die Sprache seiner Seele gefunden, seiner der Nation entsprossenen Seele, wenn er einstimmte in den heißen Sehnsuchtsruf, der alljährlich am , Passahabend erklingt:Im kommenden Jahr in Jerusalem!" : Aber das waren nur Feierstunden, die verrauschten, menschlich ergreifende und unsäglich rührende Vibrationen, denen im harten Treiben der Politik Folge nicht gegeben werden konnte. Theodor Herzl stand zur angestammten Re­ligion des Judentums wie der nach langen Jahren der Fremde, mit Macht und Ansehen umkleidet und mit allen Wassern der Kultur gewaschen, ins Heimatdorf zurückkehrende Sohn zum uralt bäuerlichen Mütterchen steht: Er liebt sie innig, er streichelt ihr Silberhaar, er küßt ihr die welke Wange, er zählt ihre Runzeln, er lauscht ihren Worten, er horcht entzückt auf längst verklungene Weisen, die seine Kind-

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