der Zukunft. Die geschichtliche Gegenwart brachte ihr nur Leid und Verachtung. Sie nahm beides hin als Erscheinungsform des Abstandes, der zwischen der Nation des Gottesgesetzes, der Nation des göttlichen Zukunftsstaates und den Nationen der Ruhmsucht und der wirtschaftlichen Selbstsucht immer noch bestand. Ihr wie ihnen fehlte Elias, der Messiaskünder. Für sie wie für sich wartete sie auf ihn. Von der blutigen Geschichte der Nationen war sie durch ihr Ideal und durch das vom Haß der Nationen errichtete Ghetto getrennt. Von Zeit zu Zeit nur griff die „große Politik" in ihr Sinnen ein: wenn die fanatisierten Scharen der Kreuzzügler sich über sie ergossen, wenn der spanische Ferdinand sie verjagte, wenn der Kosakenhetman sie hinschlachten ließ. Von den Zusammenhängen der großen Politik begriff sie nichts, wollte nichts begreifen. Ganz in sich selbst eingesponnen, war ihr das Geistesleben der Nationen fremd.-
Da fuhr ein Wetterleuchten über den Nachthimmel der Nationen, ein Wetterleuchten, so flammend und so grell, daß auch Israel die Augen hob. War es das Wetterleuchten um Morijahs Gipfel? Brach sie an, die Zeit des Elias? Im Westen war's! Dort begann's! Alle Dünste der zweitausendjährigen Gewaltgeschichte der Nationen hatten sich in Frankreich zusammengeballt und entluden sich, die Juden wie ein leibhaftiges Wunder überraschend, in dem ungeheuren Gewitter der großen Revolution. Krachend schlug ihr Blitz in den Turmbau der Staatsmänner, und ihr Donnerruf bot die entsklavten Nationen zur Freiheit und Brüderlichkeit auf. Und dieser Ruf drang auch ans Ohr des westlichen Flügels der jüdischen Nation. Die Tore ihres Ghettos sinken nieder, und aus den Reihen ihrer Dränger schlägt ihr die brandende Welle der Begeisterung für das nämliche politische Ideal entgegen, das sie so lange, einsam und duldend, im Herzen getragen.
Das Ideal des Rechts und der Liebe, nicht mehr nur sittliches Ideal des Einzelnen, sondern als politisches Ideal zum Leitstern der Völker erhoben, verleiht mit einem Schlage der Geschichte der Nationen auch Sinn und Bedeutung für die jüdische Nation und bildet die Brücke zwischen ihr und den Nationen des Westens. Völkerverbrüderung heißt die
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