Zwischen den „Alten", die als Glieder der Nation ihrem Willen Gehorsam zollten, und der neuen Generation, die fast über Nacht in die Höhe gekommen war, gab es schlechterdings keinen Weg der Verständigung. Mit blutendem Herzen sahen die Alten die Jungen mit dem Willen der Nation maßloses Gespött treiben, sahen sie sie der vom Gesetz nicht mehr geschützten Religion ihre Laune, ihren Geschmack und den faden Deismus des 18 . Jahrhunderts entgegenhalten, bis auch von Israels nationaler Religion nichts mehr übrigblieb, als was längst Gemeingut der Gebildeten aller Völker
war. Da gingen die Alten sterben.-
Aus den Reihen der neuen Generation hat sich dann doch, nachdem freilich das Vernichtungswerk zum großen Teil vollendet war, der Mann gefunden, der die nationalen Güter der Vergangenheit in die deutsch-jüdische Orthodoxie hinübergerettet hat. Zwischen den Alten und den Jungen stehend, ging S. R. Hirsch daran, dem Verderben Einhalt zu gebieten. Den schlechthinnigen Gehorsamsanspruch der Nation zu erneuen, ging nicht an, denn er hätte taube Ohren gefunden. Die an die Überzeugung der Einzelnen sich wendende Lehre des Judentums, der Geist des jüdischen Gesetzes mußte die Wankenden festigen, die Ab» gefallenen zur jüdischen Nation zurückbringen. Hatte ehedem das Gesetz die Lehre geschützt, die Nation den Geist geborgen, so mußte nun umgekehrt Lehre und Geist die Nation und das nationale Gesetz restaurieren. In Schriften voll prophetischer Werbekraft hat S. R. Hirsch die Lehre des Judentums verkündet, in umfassenden Forschungen, an den Pentateuch anknüpfend, den Geist des Gesetzes zur Darstellung gebracht. Ihm und seinen Genossen ist es gelungen, eine Minderheit der deutschen Juden beim Gesetzesgehorsam zu erhalten. Aber einen vollen Erfolg hat er selbst bei dieser Minderheit nicht erzielt. Die Eierschalen des antinationaleu Individualismus haften den meisten an. Nicht mehr die Nation und das Nationalgesetz erzieht sie Schritt für Schritt zur sturmgesicherten Überzeugung, sondern umgekehrt: eine früh erworbene und darum nicht selten kränkelnde Überzeugung läßt sie zur Nation sich bekennen und das Nationalgesetz als sie bindend erachten. Ihr schwaches Nationalbewußtsein findet vielfach keinen Anstoß daran, freiwillig
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