Heft 
(1955) 1
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ZUM FRIEDRICH-SCHILLER-JAHR

Es gab eine Zeit, da man meinte, Schiller habe uns nichts mehr zu sagen. Nach 1871 schienen die Forderungen erfüllt zu sein, die man um 1848 als aktuell aus Schillers Vermächtnis herausgegriffen hatte. Es waren einmal die Forderungen des Marquis Posa:Sire, geben Sie Gedankenfreiheit, zum andern die Mahnung des alten Attinghausen:Seid einig, einig, einig! Schiller mußte nach der Reichsgründung von 1871 als Verkünder abgestan­dener Ideale erscheinen, und Nietzsche konnte das harte Wort vomMoral­trompeter von Säckingen prägen. In den Jahren des faschistischen Terrors wurde uns zur Gewißheit, daß das Reich Bismarcks nicht den Idealen Schillers entsprochen hatte. Dieses Reich, das 1871 gegründet worden war, war ein Reich der gewissenlosen Geschäftemacher, denen Kunst und Reli­gion nichts anderes bedeuteten als die Fassade, hinter der sie ihren Hunger nach Besitz und Macht stillen konnten. Hier war kein Platz für Männer, wie Schiller sie sah: für einen Ferdinand, um nur ihn zu nennen, der un­erschrocken gegen Fürstenwillkür das natürliche Recht der Menschen ver­ficht und die Schranken niederzureißen versucht, die die Stände von­einander scheiden.

So nahen wir uns heute, da wir ein neues Reich aufzubauen haben, mit Ehrfurcht jenem Dichter, aus dessen Werk auch dort die reine edle Menschlichkeit spricht, wo wir in unserer Zeit andere Wege begehen als die, die er uns gewiesen hat. Mögen die Veranstaltungen, die sich über das ganze Jahr erstrecken, dieser Näherung dienen. Im Mittelpunkt der Fest­lichkeiten wird die Schiller-Feier in Weimar vom 8. bis 14. Mai stehen. Ei öffnet wird der Festakt am 8. Mai mit der 9. Symphonie von Beethoven unter Leitung Professor Hermann Abendrots. Am 14. Mai wird Thomas Mann im Nationaltheater sprechen. In den Bezirken, Kreisen und größeren Orten sind Schiller-Komitees unter maßgeblicher Leitung und Mitwirkung ries Kulturbundes gegründet worden. So ist der Überschneidung der Feiern Einhalt und zugleich Gewähr geboten, daß auch in den kleinsten Land­gemeinden des Dichters in würdiger Form gedacht werden kann. Noch in diesem Jahr gibt Alexander Abusch im Aufbau-Verlag eine achtbändige Schiller-Ausgabe heraus, weiterhin wird derselbe Verfasser ein 400 Seiten umfassendes Werk mit dem TitelSchiller Größe und Tragik eines deutschen Genius vorlegen. Wenn wir so des Dichters gedenken, der zu allen Deutschen spricht, wird das Schiller-Jahr der Einheit unseres Vater­landes dienen, deren Wiederherstellung unser aller dringendes Anliegen ist.

KLINGNER

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