Heft 
(1955) 9
Seite
292
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Volksbrauch, Volkssage, Volksmärchen und Volkslied woher sind sie gekommen? Warum umranken sie die festlichen Höhepunkte des Jahres und die Höhepunkte des menschlichen Lebens: Geburt, Taufe, Hochzeit und den Tod? Wer die Ursprünglichkeit und Natürlichkeit dieser Gepflo­genheiten kennt, wird zurückgeführt auf den weiten Weg der Überliefe­rung von Mund zu Mund, in die Ursprungsstufe des Volkes, als es noch ein Naturvolk war, noch so naiv dachte über die Erscheinungen der Natur, als Recht und Sitte noch nicht geschrieben standen in den Büchern der Gelehrsamkeit, als Landschaft, Berge, Wälder und Seen noch mit Geistern belebt wurden, statt sie mit Hilfe des reflektierenden Verstandes zu ver­treiben. Diese Zeit des natürlichen Ursprungs ist die Quelle des Geister­schatzes der Naturvölker, und aus ihrem Schoße wuchsen einerseits die Bräuche, andererseits die Kultur herauf, von der Goethe sagt, sie sei die verfeinerte Natur. In dem Grade, wie der Mensch zur Kulturform, zur künstlich geschaffenen Lebensform, übergeht, erstirbt in ihm die natür­liche Ursprünglichkeit, und das ist der Grund, warum die Volksbräuche schwinden und wir nur noch sterbenden Resten begegnen.- Seit uralter Zeit hat man sich daran gewöhnt, daß in den Wochen vor Weihnachten phantastisch aufgeputzte 'Schreckgestalten einhergehen, die bei den Kindern Furcht erregen. Merkwürdigerweise tragen sie alle den Namen Nikolaus oder Ruprecht. Das hat folgende Bewandtnis: Der Glaube an die umziehenden Dämonen der dunklen Winterszeit sollte bei Einfüh­rung des Christentums in lichtvollere Bahnen gelenkt werden. Man ver­suchte an ihre Stelle Heilige zu setzen, aber das mißlang. Der Volksglaube beließ den rauhen Charakter der Schreckgestalten. So geht noch heute in seinem Gewände der italienische Bischof zu Lyra als vermummter Weih­nachtsherold umher, um die Kinder über ihr Verhalten auszufragen. Als Zeitgenosse Kaiser Konstantins sollte er der Legende nach zwei Knaben einsegnen. Da sie zur Nacht ankamen und bei einem Wirte einkehrten, wurden sie erschlagen und ihrer Habe beraubt. Der Bischof hielt dem Wirt das Verbrechen vor, und da er sich reuig bekannte, betete Nicolaus zu Gott und erreichte durch seine Hilfe, daß die Ermordeten wieder lebendig wurden. Seitdem wird der. Heilige Nikolaus von Kindern umgebend dar­gestellt mit langem Bart und Pelzgewand, einen Sack auf dem Rücken tragend und einer Rute in der Hand. Vor banger Erwartung beben die