Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

Der französische Vortrag hat schon durch die Sprache in der Behandlung wissenschaftlicher Gegenstände eine in anderen Sprachen sehr schwer erreichbare logische Klarheit, wozu noch bei Thenard und Gay Lyssac eine Meisterschaft in der experimentalen Beweisführung kam. Die Vorlesung bestand in einer ver­ständig geordneten Aufeinanderfolge von Phänomenen, d. h. von Versuchen, derer. Zusammenhang durch die mündliche Erklärung ergänzt wurde. Für mich waren die Versuche ein wahrer Genuß, denn sie redeten zu mir in einer Sprache, die ich verstand, und sie bewirkten mit dem Vortrage, daß die Masse von formlosen Thatsachen, die ungeordnet und regellos in meinem Kopfe durcheinander lagen einen bestimmten Zusammenhang bekamen; die antiphlogistische oder die französische Chemie hatte zwar die Geschichte der Chemie vor Lavoisier unter die Guillotine gebracht, aber man merkte, daß das Fallbeil nur ihren Schatten getroffen hatte; ich war mit den Werken der Phlogistiker, von Cavendish. Watt, Priestley, Kirwan, Black, Scheele, Bergmann weit mehr, als mit den antiphlogistischen vertraut, und was in den Pariser Vorträgen in den Thatsachen als neu und wie ohne Anfang dargestellt wurde, erschien mir in der engsten Beziehung zu vorangegangenen That­sachen, so zwar, daß, wenn die letzteren hinweg gedacht wurden, die andern nicht sein konnten.

Ich erkannte, oder richtiger vielleicht es dämmerte in mir das Bewußtsein daß nicht allein zwischen zweien oder dreien, sondern zwischen allen chemischen Erscheinungen in dem Mineral-, Pflanzen- und Thierreich ein gesetzlicher Zu­sammenhang bestehe; daß keine allein stand, sondern immer verkettet mit einer andern, diese wieder mit einer andern und so fort alle mit einander verbunden und daß das Entstehen und Vergehen der Dinge eine Wellenbewegung in einem Kreislauf sei.

Was in den französischen Vorträgen am meisten auf mich wirkte, war die innere Wahrheit derselben und die sorgfältige Vermeidung alles Scheines in den Erklärungen; es war der vollständigste Gegensatz der deutschen Vorträge, in Welchen durch das Ueberwiegen des deductiven Verfahrens die ganze wissenschaft­liche Lehre ihre feste Zimmerung verloren hatte.

Ein zufälliges Ereigniß lenkte die Aufmerksamkeit A. v. Humboldt's in Paris aus mich, und das Interesse, was er an mir nahm, veranlaßt^ Gay Lyssac eine von mir begonnene Arbeit gemeinschaftlich mit mir zu vollenden.

In dieser Weise wurde mir das Glück zu Theil, mit diesem großen Natur­forscher in den innigsten Verkehr zu kommen; er arbeitete mit mir, wie er früher mit Thenard zusammen gearbeitet hatte, und ich kann Wohl sagen, daß in seinem Laboratorium im Arsenal der Grund zu allen meinen späteren Arbeiten und meiner ganzen Richtung gelegt wurde. Ich kam nach Deutschland zurück, wo durch die Schulen von Berzelius, H. Rose, Mitscherlich, Magnus und Wühler in der unorganischen Chemie bereits ein großer Umschwung begonnen hatte, und getragen durch die warme Empfehlung v. Humboldt's wurde mir eine außer­ordentliche Professur der Chemie in Gießen in meinem einundzwanzigsten Jahre übertragen. Im Mai 1824 begann meine Laufbahn in Gießen.

Ich denke stets mit Freude an die achtundzwanzig Jahre zurück, die ich dort verlebte; es war wie eine höhere Fügung, die mich an die kleine Universität