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Deutsche Rundschau.
England, Irland und Wales trug, an nichts so sehr als die Sendung der minderen Brüder zur Reformation der Kirche des dreizehnten Jahrhunderts. Viele Mitglieder des anglicanischen Klerus schlossen sich der Bewegung an, allein die Kirche selbst verhielt sich zuerst ablehnend, dann feindselig gegen Eiferer, die zwar zum größern Theil ihre Lehre festhielten, aber ihre Disciplin durch die Laienpredigt unterbrachen, ihre Bildung verachteten, ihre Lauheit denuncirten, und endlich in völlige geistige Stagnation geriethen. „Eine Kirche von Gentlemen für Gentlemen", hat Newman dagegen das Establishment genannt. „Sein Klerus genoß in Oxford und anderswo die Früchte einer hochentwickelten, geistigen Cnltur. Ec wachte eifersüchtig überfeine Rechte und Privilegien, erfreute sich reicher Pfründen, war mäßig, vernünftig, komfortabel, philanthropisch, tolerant und wohlthätig. Alles das war gut. selbst bewundernswert: das Leben des neuen Testamentes war es nicht. Die anglikanische Kirche hatte die Religion für die Civilisation, das erste für das neunzehnte Jahrhundert, den Geist des Evangeliums für eine Nachbildung desselben durch Paleh oder Mr. Simeon eingetauscht und schien seiner Aufgabe untreu
geworden. Der Prophet hatte ausgchört, zu rügen, zu warnen, zu
leiden"'). In diesem Stadium der Unsicherheit, des ungestillten Bedürfnisses nach frischen, geistigen Lebensqnellen, „einem Stadium der Reform", wie man es nannte, fand Newman das Oxford, das England sener Tage, von welchem er selbst gesagt hat, sein einziger Kirchenhistoriker sei Gibbon gewesen!^). Man hat Oxford später als die Stätte bezeichnet, wohin die deutschen Philosophen gehen, Wenn sie sterben. Damals, wo sie am lebendigsten waren, verrieth nichts innerhalb der Schranken der alten Universität, daß kontinentale Geistesströmungen in Oxford auch nur bemerkt worden wären. Wie man über Kant dachte, hat Carlyle erzählt3). Ein mächtiger Denker, Coleridge, war tief in die Geisteswelt des Königsberger Philosophen eingedrungen, und vornehmlich durch ihn spiegelte sie in der Dichtung von Wordsworth sich Wider. Man hat den Beweis zu führen versucht, daß die Kantische Lehre auf dem gleichen Wege bis zu Newman gedrungen sei. Er aber entgegnete: „die Behauptung, als ob ich Kant und Coleridge für meine Entwicklung verpflichtet sei, muß ich durchaus verneinen. Ich habe nie ein Wort von Kant gelesen. Ich habe nie ein Wort von Coleridge gelesen. Ich habe kein einziges Werk von Coleridge in meinem Besitz gehabt. Dasselbe könnte ich von Hurrell Fronde, Keble und Puseh sagen, wenn mir das Recht zustände, für Andere zu sprechen"^). Newman's bester Biograph fügt hinzu: „die Dichtung Wordsworth's hat ihm eigentümlicher Weise nichts zu sagen gehabt (nsvem kounä vr. biervman)^). Ebenso unbemerkt blieb die katholische Reaktion ^n Frankreich, deren entscheidende Theorien gerade in den Jahren vor und nach 1820 durch die bedeutendsten Werke De Maistre's und La Mennais' sur
l'Inckillärsnee" ihren Ausdruck fanden. In Oxford ging man seine eigenen, durch
0 Church, Venn ok 8t. kauls, über Newman. Guardian, 16. August 1890.
2) Development, Introäuet. §5, p. 8. Lord Acton, „DoeliinAer's Historien! rVorlc^ fl'tis LnZüsIr Historien! Deviev, Oktober 1890, S. 710).
2) Carlyle, Lliso. Lssn^s, I, 56.
0 Brief Newman's vom 17. August 1884 (DortniZbt!^ Deviev, September 1890, S. 435). 5) R. Hutton, Onrcünn! ^ssvmnn, Doncion 1891, p. 6.