Die Berliner Theater.
Berlin, 9. December 1890.
Wenn nur die Fülle der Dinge auch immer ihre Güte in sich schlösse! Dann müßten in der Theaterstadt Berlin die dramatische Dichtung und die Schauspielkunst aus ihrem Gipfel stehen. An besonders glücklichen Abenden vermögen die Theater, so viele ihrer sind, dem Andrange des schaulustigen Publicums nicht zu genügen. Drei, vier erste Aufführungen sind wiederholt an den Abenden des Sonnabends, die für solche Vorstellungen mit Vorliebe von den Directoren gewählt werden, nichts Seltenes gewesen. Zum Verdruß des sogenannten Premioren-Publicums, das doch nur in einem Theater sein konnte und gern alle besucht hätte. An den verschiedensten Neuigkeiten, an mancherlei dramaturgischen Versuchen und einigen wohlgelungeuen Vorstellungen hat es darum nicht gefehlt. Aber etwas Ueberraschendes, künstlerisch Hervorragendes ist doch nicht an das Licht getreten. Ein Stück wie Hermann Sudermamüs „Ehre", das sowohl durch seine Originalität und die Keckheit seines Wurfes wie durch das Unerwartete feines Erscheinens wirkte, ist uns die Saison noch schuldig geblieben; ein so lebhafter und heftiger Meinungsaustausch, wie ihn im vergangenen Jahre die ersten Aufführungen der „Freien Bühne" erregten, hat sich nicht wieder entwickelt. Eine Stimmung, die den Ausschreitungen und den Gräßlichkeiten des Naturalismus mit jedem neuen Drama dieser Art abholder wird, hat sich des Theaterpublicums bemächtigt und spricht sich immer lauter aus. Nicht nur der Verein „Freie Bühne", der einen beträchtlichen Theil seiner Mitglieder verloren hat und aus dem weiträumigen Lessing-Theater nach dem bescheidenen Residenz-Theater gewandert ist, auch die neuen Schauspiele von Wildenbruch, Sudcrmann und Alphonse Daudet haben diesen Umschlag der öffentlichen Meinung erfahren.
Das Zeichen der Zeit ist das Verschwinden der historischen Tragödie wie des Lustspiels auf historischem Hintergründe aus der modernen dramatischen Dichtung, Wenigstens so weit sie Zutritt zu der Bühne erhält. Unsere sämmtlichen Theater beschäftigen sich mit den Neueinstudirungen und Neubelebungen elastischer Dramen, mit literar-historischen Ausgrabungen oder mit Schauspielen aus der unmittelbaren Gegenwart. In den letzteren herrschen der soeialdemokratische Zug und die tragische Stimmung vor. Wie in einem Mittelpunkte strömt alles Häßliche und Widerliche auf der Bühne zusammen. Die Verfasser dieser modernen realistischen Theaterstücke sind unerschöpflich in der Erfindung neuer Folterqualen für die Zuschauer, in der Vorführung roher Scenen und gemeiner Verbrechen. Die realistische Theorie hat den Begriff des Tragischen aus dem Furchtbaren in das Kriminalistische umgewandelt; nicht unser Gemüth soll durch eine schwere Schuld tragisch erschüttert, nur unsere Sinne sollen durch die Gemeinheit und die Unsittlichkeit des Verbrechens gereizt werden. Nicht Vor das tragische Forum, alle diese Uebelthäter gehören auf die Anklagebank der zukünftigen Zuchthäuslinge. In diesen drei Monaten haben wir nach einander zwei gelungene und eine versuchte Verführung beinahe auf offener Scene erlebt; von zwei