Heft 
(1891) 66
Seite
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Die Berliner Theater.

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Todschlägen wurde der eine im Zorn, der andere mit kaltem Blute aus Rache verübt; ein Raubmord war die That eines interessanten jungen Menschen, der zu großen Hoffnungen berechtigte; eine Frau, die uns der Dichter als einen Unschuldsengel ab­malte, beging mit voller Ueberlegung das Verbrechen der Bigamie; einem Tobsüchtigen legte man vor unseren Augen die Zwangsjacke an, und die nichtswürdige Frau, die ihn in die Verrücktheit hineingehetzt hatte, sah mit der Miene erheuchelten Mitleids zu. Bei alledem hatten die Verfasser nicht den Muth ihrer Meinung und getrauten sich nicht, aus dem Theaterzettel ihre Stücke als Trauerspiele zu bezeichnen, weil sie die Abneigung des Publicums gegen einen solchen Titel kennen. So gehen Greuel­tragödien, in denen zwei oder drei Leichen aus dem Platze bleiben, unter dem farb­losen Namen Schauspiel, Drama oder Sittenbild einher. Nicht um die Reinigung, um die Reizung brutaler Leidenschaften handelt es sich in diesen Stücken; alle spritzen ihr Gut gegen die bestehende Gesellschaftsordnung aus und stellen die schändlichsten Thaten als nothwendige Folgen unserer Sitten und Einrichtungen hin. Unter dem Einfluß der modernen Anschauungen war das Publicum so verwirrt und so feige ge­worden, daß es keinen ernsten Protest gegen diese Dinge mehr wagte. Es hatte wohl ein dunkles Gefühl, daß diese Stacheln gegen es selbst gerichtet waren, aber hypnotisirt wie es war, fühlte es keinen Schmerz. Der Versuch der Polizei, sich mit Verboten in die Entwicklung einer literarischen Richtung einzumischen, hat einzig den Gemaß- regelten genützt und sie mit der Glorie der Verfolgten umgeben. Die Befreiung von dem pessimistischen Alp, der aus der Literatur lastet, kann nur durch einen Ruck des Publicums kommen; wenn die Saison für unsere Theater sich in der Unerquicklichkeit sortsetzt, in der sie begonnen hat, wird alle Welt einen tiefen Athemzug thun und damit das Nachtgespenst verscheuchen.

Von einer gewissen Verschuldung an dem völligen Niedergang des historischen Schauspiels, des feineren Salonlustspiels, der romantischen Mürchendichtung ist das Schauspielhaus nicht sreizusprechen. Wenn ein Theater, so hat das königliche in den Kampftagen der dramatischen Literatur die Verpflichtung, die ideale Kunst zu unterstützen. Von den verschiedensten Organen der Staatsverwaltung wird die Abwehr der socialdemokratischen Tendenzen, die Erweckung patriotischer Empfindung, die größere Einfachheit der Lebensführung als eine Pflicht all? Derer gefordert, denen die Er­haltung der Ordnung und die allgemeine Wohlfahrt, über alle selbstsüchtigen Einzel­interessen hinaus, am Herzen liegt. Wie dringend müßte diese Mahnung dann an das Schauspielhaus ergehen! Hier sollten nicht nur die elastische Kunst gepflegt, sondern auch die Keime des Guten und Schönen in der modernen gefördert werden. Weniger als alle anderen Bühnen der Stadt hängt die des Schauspielhauses von dem Geschmack der Menge ab. Ein conservatives, meinetwegen ein zopfiges Publicum sitzt aus seinen Stühlen; es ist den neuen Ideen nicht unzugänglich, aber keineswegs gewillt, sich ihnen blindlings unterzuordnen. Ihm kann man ein romantisches Drama, eine ein­fache Liebesgeschichte, eine anständige Gesellschaft, die zu keinem Sudermannffchen Sodom Modell gestanden hat, die Helden unserer Geschichte in der Hoffnung aus Erfolg vorführen; hier ist der gegebene Schauplatz für die Bewerber um den Schillerpreis. Aber wie so ungenügend füllt das Schauspielhaus nun schon seit einer Reihe von Jahren seine Stellung aus! Dem neuen Director, vr. Otto Devrient, der über ein Jahr lang seines Amtes waltet, sind, dem Gerüchte nach, größere Machtbefugnisse als feinen Vorgängern zugestanden worden. Von seinen Kenntnissen, seiner Initiative hat man sich das Beste versprochen. Die Kritik ist seinen Plänen, seinen Bestrebungen nicht entgegengetreten; man hat ihm Zeit gelassen, die Verhältnisse, die Kräfte cher Künstlerschaft, die er zu leiten berufen ist, allseitig kennen zu lernen. Wie schwach die moderne Production auch an unmittelbar brauchbaren, Erfolg verheißenden Theater­stücken ist, in dem Lause eines Jahres müssen ihm einige Stücke in die Hand ge­kommen sein, die eine Darstellung verdienten oder doch literarischen Werth genug be­saßen, um ihre Aufführung zu entschuldigen. Auch ein Regietalent zweiten Ranges würde mit den Künstlern des Schauspielhauses in jeder dritten Woche ein neues Stück