Die Berliner Theater.
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zu beschwichtigen, den er im zweiten Acte entfesselt hatte; sie bleibt uns das Finale schuldig und entläßt uns, sei es nun aus Bescheidenheit oder aus Schwäche, mit einem Wechsel aus die Zukunft, sowohl in Bezug auf das Verhältniß zwischen Hans und Edith, wie auf den Ausgleich zwischen den Arbeitern und dem Fabrikherrn.
Welche Mängel die Kritik indessen auch an beiden Schauspielen finden mag, wenn ihnen auch ein durchschlagender Erfolg bei dem Publicum gefehlt hat, immerhin sind es geistreiche Versuche, modernes Leben auf der Bühne widerzuspiegeln, dem, was uns im Innersten bewegt, Ausdruck zu geben, und Dinge und Vorfälle aus der unmittelbaren Wirklichkeit, von allgemeiner Bedeutung, denen ein typischer Zug anhaftet, dramatisch zu gestalten. Beide Dichter schöpfen aus eigenen Mitteln, ohne Anlehnung an die Franzosen oder an Ibsen, aus unseren Zuständen, aus unserer Volksart und erweitern den Kreis unseres bürgerlichen Schauspiels in erfreulicher Weise. Solch' ein Lob vermöchte ich dem Trauerspiel in fünf Aufzügen von Ludwig Anzengruber „Hand und Herz" nicht zu spenden. Aus das Publicum machte es bei seiner ersten Ausführung den peinlichsten Eindruck, nach der dritten verschwand es vom Repertoire. 1874 geschrieben, hat das Trauerspiel einen altmodischen Schimmer, der die Handlung auf den Brettern noch weltfremder und unwahrscheinlicher erscheinen läßt, als sie es schon in ihrer bloßen Wiedererzählung ist. Ein Lump und Nichts- thuer Görg Friedner hat seine Frau verlassen, nachdem er ihr Vermögen durchgebracht. Die Frau hat nicht unter ihren Freunden und Bekannten länger leben wollen, da sie sich vor ihnen geschämt, und ist bei Nacht und Nebel ausgewandert in einen andern Kanton. Dort ist sie bei einem wohlhabenden Manne als Magd in den Dienst getreten, hat seine Achtung und Liebe erworben und ihn, als er um ihre Hand angehalten, geheirathet. Ihren Trauschein verbrennt sie. Fünf Jahre sind seitdem vergangen, Görg hat sie in einem Zuchthaus zugebracht. Als ein Bettler kommt er in sein Heimathsdorf zurück, in der Hoffnung, seine Frau irgendwo wieder zu finden und bei ihr unterzukriechen. Der Zufall führt sie ihm geraden Wegs entgegen; auch sie ist mit ihrem zweiten Manne zum Besuche in der Heimath. Zwar entflieht sie ihm, aber Görg erfährt den Namen ihres Mannes und folgt ihren Spuren nach Wallis. Ein schreckliches Wiedersehen, eine widerwärtige Auseinandersetzung zwischen den drei Personen, die Beichte der Frau vor einem Bettelmönch, der Almosen sammelnd in ihr Haus gekommen ist, ein gereiztes Gespräch zwischen dem ersten und dem zweiten Mann folgen. Den verwickelten Knoten hat Anzengruber nicht zu lösen vermocht. Der romantische Zufall muß die Lösung übernehmen. In Katharinas Hause lebt ein blödsinniger Knecht, der ihr mit der Treue eines Hundes anhängt; er folgt ihr, als sie in der Nacht auf das Gebot des Mönchs zur Sühne ihrer Schuld das Haus verläßt, und will sie auf einem steilen Bergpfade an ihrem Kleide zurückhalten: Beide stürzen mitsammen in den Abgrund. In derselben Minute erschlägt Paul Weller, der zweite Mann, den ersten, den schuftigen Görg, dessen Frechheit ihn zur Raserei gebracht hat. Um das Ganze ist eine dörfliche Romantik mit katholischer Frömmigkeit, Wald- und Bergdust gebreitet, die seltsam von der Gaunerphilosophie und der cynischen Nichtswürdigkeit des verlumpten Strauchdiebs absticht. Nun merkt man wohl, daß es Anzengruber nicht nur um die Darstellung einer vereinzelten Thatsache zu thun war: wie er in dem „vierten Gebot" etwas gegen das vierte Gebot, hat er in „Hand und Herz" etwas gegen das sechste Gebot auf dem Herzen. Aber weder in dem einen noch in dem andern Falle kann er es in verständliche Worte und Sätze fassen. Katharinas Ehebruch hätten wir, wenn nicht verziehen, doch begriffen und Mitleid mit der Schuldigen empfunden. Bigamie dagegen ist eine Betrügerei, nicht sowohl gegen Gott, als gegen den geliebten Mann selber. Darüber kann uns auch Anzengruber nicht hinwegtäuschen. Die wilden Reden Paul's und Katharina's über die Ungerechtigkeit des Himmels verpuffen in die Luft; sie klingen uns wie Verlogenheiten an und vermehren das Unbehagen, das uns die Handlung an sich einflößt. In der Schilderung des Zuständlichen, die der Dichter, um die Dürftigkeit seiner Fabel zu verdecken, in den drei ersten Acten breit ausgeführt