Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

hat, finden sich manche charakteristische und anziehende Momente; die Figur des ver­lotterten Görg würde in einem Roman oder aus einem Bilde durch ihre Wahrheit und Ursprünglichkeit srappiren, von der Bühne herab ermüdet sie durch ihre breit­spurige Geschwätzigkeit und das Wiederkäuen ihrer Ruchlosigkeiten, und die Episoden und Nebenfiguren verzögern nur den dramatischen Verlaus.

Durch die Ausführung des Schauspiels von Hermann SudermannEhre" hatte sich das Lessing-Theater vor allen andern Bühnen Berlins die Führerschaft in der modernen dramatischen Literatur errungen. Auch in dieser Saison ist es durch die Rührigkeit seiner Leitung in dieser ersten Stellung verblieben. Von einigen kleineren Stücken abgesehen, hat es vier den Abend füllende Lustspiele und Dramen innerhalb von zehn Wochen dargestellt: am Donnerstag den 18. September ein Lustspiel in 4 Acten von Oscar BlumenthalDas zweite Gesicht"; am Donnerstag den 9. October ein Schauspiel in 3 Acten von Hugo LublinerIm Spiegel"; am Mittwoch den 5. November ein Drama in 5 Acten von Hermann SudermannSodonGs Ende" und am Sonn­abend den 29. November ein Schauspiel in 4 ActenRaskolnikow", eine Dramatisirung des bekannten Romans von Dostojewski, von Eugen Zab el und Ernst Koppel. Alle diese Stücke waren von Herrn Anno trefflich eingerichtet und wurden von den Damen Jda Stägemann, Jenny Groß und Lilli Petri und den Herren Adolf Klein, Oscar Höcker und Joses Kainz meist so lebendig und charakteristisch dargestellt, daß die Leistungen der anderen Bühnen davor znrücktraten.

Von den aufgeführten Stücken nahm das SudermannFche Schauspiel die allgemeine Aufmerksamkeit und Theilnahme so stark und eine Weile so ausschließlich in Anspruch, daß es sich unwillkürlich in den Vordergrund der Betrachtung drängt. Ein neues Stück von dem Verfasser derEhre" ries, schon lange ehe der Tag seiner Ausführung bekannt wurde, Neugierde, Vermuthungen und Gerüchte aller Art hervor- Das polizeiliche Verbot der Aufführung steigerte das Interesse; überall bildete das Drama, so wenig man noch von seinem Inhalte wußte, den Stoff eifrigster Gespräche. Wie billig ergriff Jedermann dem Verbot gegenüber die Partei des Dichters. Ver­stieß das Stück, sei es in seiner Haltung und Tendenz oder in einzelnen Scenen, gegen die guten Sitten, so war das Publicum der einzig berechtigte Richter, der es verurtheilen durste. Der Ruf des Dichters stand in diesem Falle in größerer Gefahr als der öffentliche Anstand. Die Einmischung der Polizei in eine ästhetische An­gelegenheit machte darum, gerade wie vor drei Jahren ihr Einschreiten gegen die Auf­führung des Jbsen'schen SchauspielsDie Gespenster", eine unermeßliche Reklame für Sodom's Ende". Welche Aenderungen Sudermann in dem Text seiner Dichtung vorgenommen hat, um den Forderungen der Polizeikritik zu genügen weder die Haltung noch den Verlaus, weder den Ton noch den Gedanken des Stückes haben sie merklich beeinträchtigt. Sind Milderungen und Abschwüchungen in größerem Maße beliebt worden, so haben sie dem Drama zum Vortheil gereicht. Bei der Stimmung des Publicums, das der ersten Aufführung beiwohnte, hätte der Dichter die schlimmste Niederlage erlebt, wenn er auch nur um eines Haares Breite weiter gegangen wäre, als er jetzt am Gängelbande der Polizei gehen durfte.Sodom's Ende" ist ein phan­tastisches Kartenhaus, das auf Unwahrscheinlichkeiten und Uebertreibungen beruht. Es verletzt weniger durch das, was es uns vorführt, als durch die symbolische Bedeutung, die es diesen Vorgängen beilegt. Der Fall, als eine Thatsache im Polizeibericht er­wähnt, würde kaum ein besonderes Aussehen erregen: Sudermann stempelt ihn zu einer typischen Erscheinung. Nicht um das Bild, den Untergang Sodoncks, das den jungen Maler Willy Janikow über Nacht zu einem berühmten Manne gemacht hat, handelt es sich in dem Stück, sondern um die Verurtheilung und den Zusammenbruch der reichen und verlotterten hauptstädtischen Gesellschaft, die Sudermann als Sodom und Gomorrha hinstellt. Um diese Tendenz zu verkörpern, erfindet er eine ungeheuer­liche Fabel. Ein großer Künstler, ein hervorragendes Genie soll an der Nichts-