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Deutsche Rundschau.
der Charaktere entwickelt sich, keiner erfährt eine Wandlung oder eine Steigerung. Die Gewaltthat, die Willy an seiner Pflegeschwester verübt, steht in keiner innigeren Verbindung mit der eigentlichen Fabel des Stücks, man müßte denn diesen Zusammenhang darin suchen, daß seine Schändlichkeit der notwendige Niederschlag der gesellschaftlichen Atmosphäre ist, in der er lebt. Ebenso äußerlich wie diese Vorgänge mit der Leidenschaft der Frau Adah und ihrem Heirathsplan, ist der Ausgang des Stücks mit dem Anfang verknüpft. Wiederum soll sich der Zuschauer den verbindenden Faden darin suchen, daß ein liederliches Lotterleben einen jungen Menschen leicht unter die Erde bringt. Diese rein pathologischen Zustände, die Auslösung und die ekeln Gelüste eines Schwindsüchtigen, die Nervenzusälle einer durch den Genuß zerrütteten Frau, die gierige Sinnlichkeit einer Achtzehnjährigen, gibt uns der Dichter für dramatische Motive, Scenen und Handlungen aus. Er kehrt allen Schmutz aus der Chronik des modernen Künstlerthums auf einen Haufen zusammen und ruft: Das ist die Gesellschaft, so geht ein genialer Maler zu Grunde! In dem Schauspiel „Ehre" war die Gegenüberstellung des Vorder- und Hinterhauses, nicht nur ihren äußeren Unterschieden, sondern ihrer inneren Verschiedenheit nach, ein kühner und vortrefflich durchgesührter Wurf; in „Sodoncks Ende" hat das Gegenüber der braven Leute und der Lumpen, Jobber und Schmarotzer, der anständigen Frau und der Messalina, des unschuldigen armen und des reichen frivolen Mädchens schon einen Ton des Absichtlichen und Künstlichen erhalten. Tie Einen sind gut, redlich und treu, die Andern falsch, boshaft und verlogen. Wer wollte darin ein Abbild der Wirklichkeit sehen! In seinem Gedankengehalt wie in seiner Ausführung erträgt „Sodom's Ende" keinen Vergleich mit der „Ehre". Gewiß ist es eine fest zugreisende Hand, die den spröden und widerwärtigen Stoff ergriffen, ein nicht geringes dramatisches Geschick, das ihn gestaltet und in dem zweiten und dritten Acte die schwierigsten Austritte und Ueber- gänge, wenigstens mit einem Scheine des Natürlichen, vermittelt hat; aber die ver- hängnißvolle Sucht des Naturalismus, die Frivolität auf die Spitze zu treiben, die moderne Gesellschaft und das Treiben der Reichen als ein Sodom zu schildern, hat die Wirkung dieser Vorzüge gelähmt. Im idealistischen Sinne hat Octave Feuillet in seinem Drama „Dalila" und in seinem Roman „Herr von Camors" ähnliche Vorwürfe wie Sudermann in seinem Schauspiel behandelt; die Verlockung lag nahe, diese Menschen und Dinge einmal realistisch darzustellen, und wenn nun Sudermann in allen seelischen Beziehungen und Entwicklungen seines Helden und seiner drei Heldinnen, in der feineren Darlegung ihres Nervengeflechts, ihrer Empfindungen und Gedanken hinter Octave Feuillet's Kunst zurückbleibt, so trägt nicht sowohl der Realismus, als der Mangel an Ernst und künstlerischer Wahrhaftigkeit in seinem eigenen Talente daran die Schuld.
Neben dem Schauspiel Sudermann's verdient von den Neuigkeiten des Lessing- Theaters das Lustspiel von Oscar Blumenthal, „Das zweite Gesicht", die meiste Beachtung. Der witzige Verfasser gehört zu den Herrschern aus dem Gebiete der Saloncomödie. Er ist bis jetzt so klug gewesen, sich auch durch die lautesten Erfolge der realistischen Kunst nicht von seinem eigensten Felde verlocken zu lassen; er hat den Salon nicht mit der Dachkammer und die Sprache der Gebildeten und Halbgebildeten nicht mit dem Berliner Dialekt vertauscht. Schon diese Enthaltsamkeit gewinnt ihm meine Zustimmung, und ich wünschte nur, daß er durch die Wahl eines glücklichen Stoffes, durch Erfindung einer der Wirklichkeit abgelauschten Handlung auch wieder den vollen Beifall des Publikums erwürbe. Im Vergleich zu seinen früheren Stücken: „Der Probepfeil", „Die große Glocke", „Ein Tropfen Gift" macht sich in den letzteren das geistreiche Gespräch, die epigrammatische Wendung, die Miniaturmalerei zu übermächtig, zum Schaden der Fabel und des dramatischen Verlaufs geltend. In den Comödien „Der Zaungast" und „Das zweite Gesicht" drängt der Satiriker den Dramatiker beiseite. Schon im Titel spielt er Versteckens mit uns. Während wir mit dem Begriff „zweites Gesicht" zunächst das Hellsehen, eine Vorahnung des Zukünftigen in einer Vision verbinden, will der Verfasser nur daraus hin-