Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

solchen Kindlichkeiten widerlegt man den Realismus nicht, weder in seinen Tendenzen noch in seiner Kunstsorm: im Gegentheil, was ihn widerlegen soll, bekräftigt ihn. Im Vergleich zu einer Marionettenwelt, wie sie uns Lubliner vorführt, sind die Wirklichkeiten des Realismus, wie abstoßend und herzkränkend sie erscheinen mögen, nicht nur wahrer, sondern auch künstlerischer. Lubliner's Muse hat in den letzten Jahren, vielleicht, weil sie sich nicht mehr eines lauten Erfolges rühmen kann, einen mürrischen grämlichen Zug bekommen, der ihrem seinen Gesichtchen und ihrem zierlichen Figürchen gar nicht steht. Sie ist wie ein Goldsischchen, das aus der Ober­fläche des Teiches schwimmen muß, wenn es gesehen werden soll; so bald es in die Tiefe taucht, ist es verloren.

Die herbe und grausame Unerfreulichkeit des modernen Realismus trat uns in dem SchauspielRaskolnikow" entgegen. Eugen Zabel, der sich durchseine eingehenden und sorgfältigen Studien über die moderne russische Literatur zu einem ihrer Dolmetscher und Vermittler bei uns gemacht hat, und Ernst Koppel sind nicht vor dem Wagniß zurückgeschreckt, den bekannten Roman Dostojewskis in ein Drama zu verwandeln und auf die deutsche Bühne zu bringen. Aber sie haben das dramatische Element der Erzählung ebenso sehr wie die Wirkung der Reue und Buße des Sünders aus das Publicum überschätzt. Der einsame Leser bewundert die Kunst, mit der das Nervengeflecht Raskolnikow's wie aus einem Secirtisch von dem Dichter sreigelegt wird, der Zuschauer aber empfindet gegen den jammernden, unstäten und halbwegs irren Verbrecher nach der That womöglich noch einen größeren Widerwillen als vor der Verübung des Mordes. Die Qualen RaskolnikovLs wie die Ermahnungen Ssonjcis lassen das Theaterpublicum nicht nur kalt, sondern ermüden es. Der Hauptsatz des Realismus, nicht aus die Fülle der Begebenheiten, sondern aus die Wirklichkeit und Wahrheit der Charaktere komme es an, mag im Roman für eine gewisse Klasse von Lesern gelten: für die Bühne ist er unanwendbar. Hier gilt einzig die Handlung, die feinste und tiefsinnigste Reflexion kann hier die fehlende Leidenschaft nicht ersetzen. Raskolnikow mangelt Alles zu einem dramatischen Helden. Seine Grübelei, seine Dürftigkeit, seine wissenschaftlichen Theorien, die Zerrissenheit seiner Seele nach der Ballführung seines Verbrechens, seine Zerknirschung vor dem Worte Gottes, seine Furcht vor dem Späherauge der irdischen Gerechtigkeit alle die Eigenschaften, die ihn für den Leser so wahr, so anziehend und bemitleidenswertst machen, sind auf der Bühne ebenso viele Hindernisse seiner Heldenhaftigkeit. Im Roman versöhnt uns die saubere und genaue Detailschilderung des russischen Kleinlebens mit seinem Schmutz, seinem äußeren Elend und seiner inneren Verlumptheit; von der Bühne herab widert uns das Bild, das nur in groben Umrissen und grellen Farben gegeben werden kann, je länger wir es betrachten müssen, um so peinlicher an. Die zwei ersten Acte sind von den Bearbeitern geschickt aus der Erzählung herausgearbeitet worden und steigern sich wirkungsvoll. Der erste führt die Hauptpersonen, den blutarmen Studenten Raskolnikow, den ewig betrunkenen und ewig gerührten Kanzleibeamten Marmeladow, seine Tochter Ssonja, ihren Verführer Swidrigailow, die Wucherin Aljona Jwanowna und den Untersuchungsrichter Porphyrius, in bewegten, sich wahrscheinlich und folge­richtig aneinander reihenden Scenen ein. Die Gipselung erreicht die Handlung des Actes in dem Tode Marmeladow's, der in seiner Betrunkenheit von einem Wagen überfahren und getödtet wird. Der zweite Aufzug versetzt uns in die Wohnung der Wucherin. Durch die Schilderung ihrer Bosheit und Nichtswürdigkeit, ihrer List und ihres Trotzes gegenüber dem Gesetz, die sich in ihren Thaten und Reden offenbaren, gelingt es den Bearbeitern, unsere Abneigung und unfern moralischen Abscheu gegen die häßliche und heimtückische Alte zu steigern und Raskolnikow's Verbrechen in einem milderen Lichte erscheinen zu lassen. Damit aber erlischt jedes dramatische Interesse. In den beiden letzten Acten wird nicht Raskolnikow von Gewiffensqualen, sondern der Zuschauer von Unlust und Langerweile gefoltert. Alle Mühe der Bearbeiter, diese todten Scenen zu beleben, ist vergeblich geblieben. Seinem Stoffe nach, wie in seiner künstlerischen Form erlitt der Realismus eine Niederlage; der Stoff beleidigte, die Form langweilte das Publicum. Nach drei Aufführungen verschwandRaskolnikow"