Die Berliner Theater-
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Don den Brettern. Der realistische Roman ist aus die Bühne nicht zu übertragen; er trachtet nach Wahrheit und Unmittelbarkeit, sie will und kann einzig Illusionen geben; sie lebt von dem Schein der Dinge, er hofft ihr Wesen darstellm zu können; er bemüht sich, den Menschen in seiner Nacktheit zu schildern, und sie muß ihrer Natur nach selbst die Nacktheit noch schminken und balsamiren. Aus der Bühne ist das Conventionelle allein, das ihrer Optik und Akustik Angemessene lebensfähig, und Franz Moor in all' seiner Ungeheuerlichkeit noch einmal so wahr und wirklich wie der „realistische" Raskolnikow.
Dem Berliner Theater fehlt es niemals an dem Zulaus und dem Beifall des Publicums, wenn es ältere Stücke in neuer Einrichtung und temperamentvoller Darstellung vorführt. Es hat jetzt neben seinem Director Barnah und Nuscha Butze in Franziska Ellmenreich und Friedrich Mitterwurzer zwei hervorragende schauspielerische Kräfte gewonnen, die im Trauerspiel wie im Lustspiel gleich verwendbar und immer siegessicher sind. „Hamlet" wie „Kean", „Maria Stuart" und „Die Jungfrau von Orleans", die „Journalisten" und die „Goldfische" erregen dieselbe freudige Zustimmung eines vollen Hauses. Die wirklichen Neuigkeiten des Theaters dagegen finden weder Aufmerksamkeit noch Theilnahme. Meist sind sie schon an dem Abend ihres ersten Erscheinens verloren. Bedenklicher noch als diese Ablehnung durch das Publicum erscheint mir ihre literarische Bedeutungslosigkeit. Das Schauspiel in vier Acten von Theodor Herzl, „Der Bernhardiner", das am Donnerstag den 30. October zum ersten Male aufgeführt wurde, und das Schauspiel in vier Acten von Alexander Moszkowski und Richard Nathanson, „Das Schweigegeld", das am Sonnabend den 22. November zur ersten Aufführung kam, ertragen kaum eine kritische Betrachtung. Den Mittelpunkt des ersten Stückes bildet eine durch alle Badeorte Deutschlands, Italiens und der Schweiz abenteuernde russische Gräfin, die nach der „großen Liebe" sucht. Dabei ist diese Liebe in ihrer unmittelbaren Nähe. Treu wie ein Bernhardiner Hund begleitet sie der Sohn ihres Verwalters, ohne es je zu wagen, aus seiner untergeordneten Stellung heraus der Herrin seine Liebe zu erklären. Um besser und mit einem Schein des Rechts von ihm unterstützt werden zu können, gibt sie ihn für ihren Gatten aus und heirathet ihn endlich, nachdem sich die Experimente mit der „großen Liebe" als thöricht und aussichtslos erwiesen haben. Verquickt mit der ernsthaften Liebesgeschichte ist die lustige zwischen dem geistreichen Backfisch und dem liebenswürdigen Witzbold — Alles und Alle nach der alten Schablone gemalt. In dem Schauspiel „Das Schweigegeld" handelt es sich um eine Erpressung. Die ältere Schwester fordert von dem Liebhaber der jüngeren compromittirende Briefe zurück. Dabei wird sie überrascht und nach ihrer Verheiratung mit einem Amtsrichter von dem Mitwisser ihres geheimnißvollen Besuches bei dem russischen Nihilisten fort und fort zu einen: „Schweigegeld" gezwungen. Natürlich wird der Erpresser, der diesmal, um der socialdemokratischen Stimmung zu genügen, ein Maurergesell sein muß, entlarvt; die Unschuld der Frau Amtsrichterin kommt an den Tag, und selbst die nicht ganz reinliche und zweifelsohne Unschuld der jüngeren Schwester findet einen harmlosen Liebhaber ohne Vorurtheil. Die Fabel wie die Ausführung haben sich aus dem Gerichtssaal auf die Bühne verirrt.
Auch das Residenz-Theater hat uns mit keiner geistvolleren Gabe bedacht. Einer lustigen, in sich unbedeutenden Posse von Albin Valabrsgue „Familie Moulinard" folgte ohne tiefere Wirkung am Sonnabend den 22. November das Pariser Sittenbild von Alphonse Daudet „Der Kamps ums Dasein" in einer Uebersetzung von Eugen Zabel. Das Stück richtet seine Spitze gegen die Grundsätze und Lehren der rücksichtslosen, nichts achtenden, auf das Recht des Stärkeren und die Nothwendigkeit des Kampfes sich stützenden Selbstsucht, gegen den Egoismus, der sich aus der Theorie Darwin's einen glänzenden und scheinbar undurchdringlichen Schild gemacht hat. Allein Daudet hat seine Absicht nicht uuszuführen vermocht; statt eines tragischen Jnteressenkampfes führt er uns ein altes
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