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Deutsche Rundschau.
Ehebruchs- und Versührungsdrama vor, das dadurch nicht an Tiefe gewinnt, daß die Personen beständig von dem Kampfe um das Dafein und dem Rechte des Stärkeren reden. Zum Uebermaß des Unglücks ist das Stück für die Berliner Theaterbesucher nicht einmal recht verständlich. Es enthält nicht nur eine Fülle Pariser Anspielungen im Einzelnen, sondern gibt sich auch im Ganzen als eine Fortsetzung des Romans „O'immortelN Paul Astier, der schöne Mann und berühmte Architekt, der dort die alte Herzogin von Padovani geheirathet hat, ist nach drei Jahren der Frau überdrüssig geworden und hat ihr Vermögen durchgebracht. Er ist jetzt, um welcher Verdienste willen, erfahren wir nicht, Unterstaatssecretair geworden und jagt einem neuen Goldfische, einer jungen ungarischen Gräfin, nach. Die Herzogin ist ihm ein Hinderniß zu seinem Ziel; er will sich von ihr scheiden lassen. Als fromme Katholikin weigert sie sich, in die Scheidung einzuwilligen, und er schüttet ihr in ein Glas Wasser das Gift, das er eine Stunde vorher einem von ihm verlassenen Mädchen weggenommen hat. Wie sie nun aber trinken will, erwacht in dem feigen Schuft die Angst vor den Folgen; er entreißt ihr das Glas, es folgt eine rührende Versöhnungsscene zwischen den Leiden Gatten. Fünf Monate liegen zwischen dem vierten und dem fünften Acte; in diesem Zeitraum ist die Herzogin und die verlassene Geliebte gestorben, Paul Astier kann seine Ungarin heirathen. Eben hat er ihr eine Erklärung gemacht, als ihn der Vater des Mädchens, der durch ihn unglücklich geworden ist, ein braver Postsecretär, niederschießt, mit den Worten: „Ich habe eine Waffe, Du hast keine, folglich bin ich der Stärkere im Kampfe um das Dasein — Paff!" Trotz aller realistischen Einzelheiten und seiner darwinistisch angehauchten Gespräche ist das Stück ein richtiges schaurig-sentimentales Boulevarddrama, dem nicht einmal das Verdienst einer geschickten Technik zukommt.
Der Verein „Freie Bühne" hat das Relief, das ihm im vergangenen Jahre seine Rücksichtslosigkeiten in den Augen eines Theils der Berliner Gesellschaft gaben, eingebüßt. Vor dünn besetzten Bänken hat er bisher im Residenz-Theater zwei kaum beachtete Vorstellungen gegeben, am 12. October und am 30. November. In der ersten kam das wunderliche Trauerspiel des Schweden A. Strindberg „Der Vater" zur Ausführung. Der Satz, von dem der Dichter ausgeht, ist die Annahme eines ewigen Kampfes zwischen Mann und Weib. Ueber die Erziehung ihrer einzigen Tochter sind der Rittmeister und die Rittmeisterin in einen Streit aus Tod und Leben gerathen; er ist Freigeist, sie ist Pietistin. Durch ihre kalte, schlau berechnende Bosheit weiß sie in ihrer Umgebung und bei dem Arzte den Verdacht zu erwecken, daß ihr Mann geistesgestört sei. Sein Jähzorn, seine Unruhe, seine Unentschlossenheit und seine Unersahrenheit in allen praktischen Dingen unterstützen ihre Angaben. Nachdem er eine brennende Lampe nach seiner Frau geschleudert und eine nicht geladene Pistole aus sein Kind gerichtet hat, bleibt nichts übrig, als ihn aus offener Bühne in die Zwangsjacke zu stecken. Zum Glück stirbt er bald daraus am Schlagstuß. So bleibt die saubere Mutter die einzige Herrin ihrer Tochter und erhält noch obendrein die Lebensversicherung des Verstorbenen. Solche Geschichten entziehen sich nach meiner Ansicht jeder ästhetischen Betrachtung; es sind im besten Falle Studien für Irrenärzte, nicht um den Irrsinn des Rittmeisters zu constatiren, sondern um den wundersamen Irrgänger! des dichterischen Gedankens nachzuspüren. In der naturalistischen Literatur werden die Hirngespinnste eines krankhaften Denkens und Empfindens immer zahlreicher. Die zweite Ausführung des Vereins brachte nach einer Platten und rohen Comödie „Angele" von Otto Ehrlich Hartleben, die natürlich wieder als Spiegelbild der Berliner Gesellschaft gelten sollte, eine dialogisirte Novelle in zwei Scenen von Marie von Ebner-Eschenbach „Ohne Liebe", voll harmlos gemüthlicher Plauderei: ein Cousin, der von der Liebe seiner ersten Frau hart zu leiden gehabt hat, und nun die Cousine „ohne Liebe", nur aus Hochachtung heirathet, obgleich sie beide einander seit Jahren schwärmerisch zugethan sind. Ein Bildchen aus dem österreichischen adeligen Leben, ohne jede satirische Spitze. Die „Freie Bühne" war während einer halben Stunde in ein Liebhabertheater für Grasen und Comtessen umgewandelt.
Karl Frenzel.