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Deutsche Rundschau.
Literatur und Kunst. Lenz.
Gedichte von I. M. R. Lenz. Mit Benutzung des Nachlasses von Wendelin von Maltzahn.
HerausgegeLen von Karl Weinhold. Berlin, W. Hertz(Besser'scheBuchhandlung). 1891.
Ich habe Lenz gegenüber immer ein unbestimmtes Gefühl von Unrecht. Als sei er ein Verstoßener, an dem wieder gut zu machen sei. Sicher ist, keines Anderen Gedichte würden wir so willig dem jugendlichen Goethe als sein Eigenthum in die Tasche stecken, als eine Anzahl von Lenzes Versen.
Sein Unglück war, daß er eben Unglück haben sollte. Keine günstigen Sterne kreisten über seinem Scheitel, und endlich sanken sie alle um ihn nieder, und er wandelte in sternenloser Nacht die letzten Zeiten seines verwüsteten Lebens.
Weinhold hat die Gedichte neu zusammengestellt. Da athmet noch Alles Hoffnung, und die jünglingshafte Verzweiflung, die seine Verse erfüllt, ist jene Verzweiflung, deren man sich später als der schönen Tage und Nächte erinnert, wo man noch unglücklich sein durfte. „Ich, gue j'stam beureuZS alors," sagte die Clairon, „j'stais si malbeureuss!" Lenz ist ein Virtuose im Außersichgerathen. Die Flamme lodert immer hoch empor. Er hat Zeiten gehabt, wo er unzurechnungsfähig war. Leider wissen wir fast nur von diesen. Die, in denen er ruhiger lebte, sind uns ihrem Inhalte nach unbekannt. Wahrscheinlich würde der Eindruck, den sein zerstücktes Dasein bietet, anders sein, wenn wir in gleichmäßigerer Art von ihm wüßten.
Hierin mag wohl der Grund liegen, warum jenes Gefühl mich beschleicht, wir seien in einer Art von Schuld ihm gegenüber. Man beurtheilt den Weinstock nach dem Getränke, das er liefert- Mögen die Trauben da noch so verfault erscheinen: läßt sich aus ihnen etwas herauslesen, was edlen Wein gewährt, so muß der Stock danach abgeschätzt werden, und wenn es auch nur wenige Flaschen gewesen sind. Er war eine vornehme Natur. Lesen wir seine letzten Verse, mit denen Weinhold den Bericht über sein Leben abschließt:
Schrieb ich vielleicht mir nicht zum Ruhme,
So denkt: sein Schicksal traf ihn hart!
Er blühte noch, als seine Blume Von einem Blitz getroffen ward.
Sie senkte tief die blassen Wangen,
Und Himmelstropfen haben sich Seither den Blättern angehangen:
Das denkt, und dann bedauert mich.
Ich kann aufs Höchste doch nur lächeln,
Mit trüben Augen nur mich freun;
Mein Athem klagt — mein letztes Röcheln Wird auch noch eine Klage sein.
Wem unter Jünglingen und Schönen Ich ohne meine Schuld nnßfiel,
Der denk': er spielt die letzten Semen In einem frühen Trauerspiel.
Das wurde vor hundert Jahren geschrieben! Man bemerke zumal die Schönheit der letzten Strophe. „Mein Athem klagt" ist ein Ausdruck, der Goethe's würdig wäre, und so die beiden Schlußverse. Es gibt Menschen, denen herrliche Anlagen in so verhängnißvoller Mischung verliehen worden sind, daß jeder Schritt, den sie thun, ein falscher ist, jede That zu einem Unglück wird. Die von Mißerfolg zu Mißerfolg weiter gehetzt, früh hinweggehen. Und denen auf ihrer Flucht durchs Leben Juwelen, die sie bei sich tragen, aus der Tasche fallen, ohne daß sie selbst und Andere sich darum kümmern. Dann, spät, wenn Alles vorüber ist, kommen Leute, die