Literarische Notizen.
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man schon lange; Wertheimer zeigt nun, daß der Zar mit solcher Eilfertigkeit vorging (weil er fürchtete, Napoleon könne ihm entwischen), daß die meisten Generale erst im Augenblick des Beginns der Schlacht selbst erfuhren, es sei eine solche beabsichtigt; selbst Kutusow, welcher den rechten Flügel anführte, soll erst durch den Kanonendonner über die Absichten seines Herrn aufgeklärt worden sein. Alexander fürchtete, daß Franz I. eine Schlacht nicht gut heißen würde, und so setzte er auch diesen, welcher infolge der Strapazen seit zwei Tagen fieberkrank im Bette lag, nicht in Kenntnis;; alsdann Franz I. nach erhaltener Nachricht um halb zehn Uhr ausstand und aus dem Kampfplatz erschien, war das russische Centrum bereits in die Flucht geschlagen und das Spiel verloren. Zahlreich sind auch die neuen Mittheilungen über die inneren Verhältnisse der Monarchie und über die Verhandlungen der ungarischen Reichstage von 1802, 1805, 1807 und 1808, obschon der Titel eine eingehendere Geschichte auch Ungarns in Aussicht stellt, als Wertheimer wirklich bietet, lieber die viel verhandelte Frage, weshalb Erzherzog Karl den Sieg von Aspern nicht ausnutzte, gibt Band II, 327—330 authentische Ausschlüsse. Karl kannte die gefährliche Lage der Franzosen nach der Schlacht sehr wohl; aber es fehlte ihm an Schissen, um über die hoch angeschwollene Donau zu setzen, weil der Vorrath an Pontons bei Regensburg verloren gegangen war; die Absicht, die Lobau sofort in der Nacht vom 23/24. Mai mit zwei Brigaden anzugreifen, mußte Karl deshalb aufgeben, lleberdem waren alle Geschütze ausgebrannt, aller Schießbedarf verbraucht, und kurz nach der Schlacht führte Davoust dem Kaiser 45 000 Mann frischer Truppen zu, während der Erzherzog längere Zeit benöthigte, um sich zu verstärken. Außerdem hätte das Gelände eine nachdrückliche Verfolgung mit der Reiterei wegen der zahlreichen waldigen Auen sehr erschwert. Endlich erhellt aber auch, daß dem Erzherzog seitens seines Generalstabs von sofortiger Ueberschreitung der Donau abgerathen wurde und er umsomehr die Last der Verantwortung fühlte, „die letzten Kräfte der Monarchie aufs Spiel zu setzen". Tupetz hat in der historischen Zeitschrift IUV, 171—173 an Wert- heimer's erstem Band die oft mangelhafte Verarbeitung und den manchmal nachlässigen Stil getadelt; es will uns scheinen, als ob der zweite Band die Berücksichtigung dieses nicht unbegründeten Tadels erkennen lasse.
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Cüurl68 'iVontvortti villre, Üart. In t>vo Vols., Uouäon ancl /öWcv-Torlc, Naomillan amt Co., 1890.
Sir Charles Dilke, frühzeitig durch seine hervorragende Begabung eine Berühmtheit als radikaler Politiker, ein Mann der Zukunft auch in seinen Beziehungen zu Gambetta, später durch unerquickliche Privatangelegenheiten zeitweilig aus dem öffentlichen Leben gedrängt, legt in diesem umfassenden Werk eine vollständig neue Bearbeitung seines zuerst 1878 erschienenen Buches vor. Er hat in der Zwischenzeit weite Reisen unternommen, eine ausgedehnte Literatur
durchgegangen, und mit Unterstützung von Freunden, von englischen Beamten und Politikern in allen Theilen der Welt eine unvergleichliche Masse von Thatsachen und Meinungen gesammelt, welche er hier wohlgesichtet vor dem Leser ausbreitet. Das Buch behandelt, kurz gesagt, die gegenwärtigen Zustände Groß-Eng- lands, d. h. aller der über die Erde zerstreuten Besitzungen, welche in sehr verschiedenen Verhältnissen, der Abhängigkeit von der englischen Macht sich befinden. So beschreibt der Verfasser nacheinander die politische und sociale Lage, die Arbeit und Bildung, die ganze Entwicklung während der letzten Jahrzehnte von Neufundland, Canada, Australien (worunter Australien, Neuseeland und die britischen Inseln des stillen Oceans inbegriffen werden), Süd-Afrika, Indien, ferner von den Kroncolonien, jenen Gebieten, über welche das englische Colonialministerium unmittelbar den maßgebenden Einfluß ausübt. Die entworfenen Schilderungen stellen nun die Grundlage dar für die Auseinandersetzung der Ansichten, welche sich der Verfasser über die nähere und fernere Zukunft dieser Länder gebildet hat. Zwei Probleme treten dabei in den Vordergrund. Welche Gestalt werden die Beziehungen dieser außereuropäischen Gebiete zu England voraussichtlich annehmen? Wie kann diese ungeheure Masse im Falle eines Conflictes zwischen England und einer oder zwei großen europäischen Mächten vertheidigt werden? In Bezug auf die erste Frage fällt die Antwort für verschiedene Länder auch sehr verschieden aus.
> Die Abhängigkeit Canada's und Australiens ; von England rst heute nur noch sehr lose, und j Sir Charles Dilke meint, es lasse sich an- ^ nehmen, daß die beiden großen Länder in absehbarer Zeit auch diese lockeren Beziehungen ! aufgeben werden; ob dabei Canada sich geneigt zeigen wird, in die Vereinigten Staaten auszugehen, läßt er unbestimmt. Indien muß unter allen Umständen für England gehalten werden, wenn dieses eine Großmacht bleiben will, und wegen Indien muß Südafrika englischer Besitz bleiben. Doch spricht sich Sir Charles Dilke. getreu den sonst von ihn: vertretenen Grundsätzen, dafür aics, daß in diesen Ländern ebensowohl wie in den anderen, von culturfähigen oder cultivirten Völkern bewohnten Colonien, z. B. den Inseln Westindiens, den Einwohnern durch Ausdehnung ihrer politischen Rechte möglichst Gelegenheit geboten werde, sich selbst zu regieren, wenngleich unter dem Einflüsse Englands, soweit dessen große Interessen in Betracht kommen. Die zur Vertheidigung erforderlichen Maßregeln werden bei jedem einzelnen Gebiete, am eingehendsten natürlich in Bezug auf Indien erörtert; der Verfasser ist da eher Pessimist als Optimist, zum wenigsten erwägt er ganz vorurtheilslos die Lage und die Bedingungen der englischen Herrschaft und vertraut nirgends auf die Gunst des Geschickes. In einem großen Theile des zweiten Bandes werden dann unter einzelnen Ueberschriften, wie Demokratie, Arbeit, Schutzzoll, Erziehung, Religion rc. die Thatsachen vergleichend zusammengestellt, was ohne Wiederholungen nicht abaeht, jedoch dem Ver-