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Deutsche Rundschau.
selbstgeschaffene Religionsformen mögen nach Zeit und Umständen glänzend und Achtung gebietend erscheinen, die Lüge des Nationalcultus mag in lebloser Hohlheit sich hoch ausblähen, mag Jahrhunderte hindurch das Land bedecken, mag auch der Gelehrten Aufmerksamkeit ablenken und ihr Urtheil verwirren, endlich aber wird man doch finden, daß entweder die katholische Religion wirklich und wahrhaft aus der übersinnlichen Welt in diese sichtbare herabgekommen sein müsse, oder, daß es nichts Positives, nichts Gewisses, nichts Wirkliches gebe in unseren Vorstellungen von dem Ursprung unseres Daseins und von unserer letzten Bestimmung*)." Von diesem Standpunkte aus muß Newman äußerst hart über den Rationalismus urtheilen. Rationalismus ist ihm „ein Mißbrauch der Vernunft; d. h. ein Gebrauch derselben, zu welchem sie nicht bestimmt war; der Rationalismus nimmt die Worte der Schrift als Zeichen ihres idealen Gehaltes; der Glaube nimmt sie als Realitäten^)." Das, was man in Eng- * land „8erff,tural Ueijoioa" nennt, ist daher Newman so gut wie der ganze Protestantismus nur eine Form des Rationalismus, welcher Texte an die Stelle des vor diesen Texten bestehenden lebendigen Körpers der Kirche gesetzt hat^). Der Protestantismus ist nicht das historische Christenthum: was immer dies gewesen sein mag, Protestantismus war es nicht Z, und wie letzterer aus einem rationalistischem Princip entspringt, führt er wieder zum Rationalismus und Skepticismus Z. Im Gegensätze dazu ist der Katholicismus die Weltreligion; „aller anderen Religionen Dasein ist abhängig von den Verhältnissen von Raum und Zeit; sie haben nur ein zeitweiliges und örtliches Leben: den einheimischen Pflanzen eines bestimmten Landstriches gleich blühen die Erdgeborenen fröhlich unter dieser oder jener Sonne, in dieser oder jener Lust, in feuchtem oder trockenem Boden; ihnen entrissen und anderswohin versetzt, sterben sie ab"^). Der katholischen Weltreligion dagegen eignet, wie den Propheten und Aposteln, die energische, directe „Apprehension" des unsichtbaren Herrn und Erlösers. „Zeitalter aus Zeitalter vergehen, die Kirche wechselt ihre Disciplin, sie vermehrt ihre Hebungen, Alles nur in der Absicht, ihren Blick um so voller aus die Person des unsichtbaren Herrn zu wenden" H. Nur geistige Obstruction, meint Newman, kann sich der Evidenz ihrer Wahrheit entziehen ^); oder vielmehr, die Leugnung derselben ist meist die Folge der Gewohnheitssünde des Jntellects, welcher über die Vorwürfe des Gewissens vornehm hinwegzugleiten beliebte^).
Das Christenthum ist also nicht, wie Guizot meinte, zuerst als Idee, dann als Thatsache in die Welt gekommen, sondern gerade das umgekehrte Verhältniß
I)i8eoui'868 to Mxoä 6ouArsMtiou8, p. 283 6 Deutsche Übersetzung S. 249.
2) L88Ä^8, erit. unä trist., I, p. 31.
3) kl'686llt kobitiou ot OatvoliW, x. 322.
4) Osvsloxmsnt, x>. 5 t.
5) I)i86U88!ON8 uuä .4rMEnt8 <1866), p. 366.
6) Vi 860 ui '868 to Mxoä 6 ouAr 6 Mti 0 N 8 , 250. Deutsche Uebersetzung S. 220 s. Oe6Ä8iong1 86rmou8, x. 40.
2 ) OiAimusr ot.4836nt, x. 210.
2) Icisu ot u lluiverMv, p. 191.