Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

der Kirche hängt menschlich gesprochen davon ab, ob die europäische Mensch­heit zu einem Ausgleich beider Auffassungen gelangt. Von den beiden letzten großen Repräsentanten der katholischen Theologie hat keiner mehr als die eine Seite des Erkennens zum Ausdruck zu bringen gewußt: Döllinger die geschichtliche, Newman die dogmatische. So ist Beider Lebenswerk nur ein Fragment geblieben. Um auf dasjenige Newman's zurückzukommen, so haben wir da, meinte Gladstone,das Werk eines Geistes vor uns, der scharf genug ist, den Diamant zu schneiden und glänzend, wie der Diamant, den er schneidet. Wie selten findet sich in den seltsamen und unerforschlichen Gedenkblättern des Menschengeschlechtes, daß mit solchen Denkwerkzeugen von fast übermenschlicher Kraft und Feinheit Charakter­stärke und Energie des Willens in ebenso ungewöhnlichem Maße entwickelt sind oder sich entwickeln lassen, so daß jenes aus Denken und Handeln zusammengesetzte Gebäude fertig wird, welches das Leben zu einem moralischen Ganzen macht!" H Newmans theologische Weltanschauung ermangelt nicht dessen, was die heutige Welt geneigt sein könnte, eine erschreckende eiserne Consequenz, eine gewisse furcht­bare Geschlossenheit und Schärfe zu nennen. Gleichwohl nimmt sie unter den theologischen Richtungen der Gegenwart eine Stellung ein, welche dafür zeugt, wie Newman auch als Katholik nie vergessen hat, daß die überlegene Intelligenz und die sieghafte Leidenschaftslosigkeit, welche ihm die Natur als ihre herrlichsten Gaben in die Seele gelegt, ihn zu einer Ausgabe des Friedens und der Ver­ständigung berufen hatten. Die Lieblingsschöpfung seiner protestantischen Jugend war die Via msctia; und so verschieden die in diesem Werke niedergelegten An­sichten von seinen späteren waren, im Grunde ist er auch als Katholik der Mann der Via meckia inmitten der Gegensätze des Tages geblieben. Fronde hat ihndie Stimme der intellectuellen Reaction" genannt,welche der Aera der Revolution in Europa gefolgt ist". Aber wie anders klang die Stimme dieser Reaction gegenüber derjenigen eines De Maistre oder eines Bonald, der Veuillot von gestern und derCivilta eattoliea" von heute! Ihm galt es nur, seine und seiner Brüder Seelen zu retten: hingestorbene politische Systeme durch den Einfluß der Religion wieder zu erwecken; die Kirche an vertrocknete Mumien anzubinden oder sie sehr irdischen Bestrebungen und Gelüsten als Locomotive vorzuspannen das waren Dinge, welche in seinem Geiste keinen Platz fanden. So war sein Ansehen, erhaben und unberührt von dem Staub dieser Erde, und so war seine Theologie: sie hatte nichts zu thun mit der politischen und irdischen Aus­beutung des Heiligsten. Selbst die Dunkel der nächsten Zukunft konnten einen Geist nicht mehr beunruhigen, der längst über den Wolken wohnte. Schon in derVxoloo-ia" hatte er geschrieben:in Betreff der Zukunft schwebt unserem Geiste nichts Sicheres vor, ob sie eine gute oder böse sein werde. Daß ein so Leuchtender Stern wie Augustinus als der letzte Bischof von Hippo aus dem Leben scheiden sollte, hat seit der Zeit den Christen immer als Warnung dienen können vor jedem Versuche, vorauszusagen, wie die Vorsehung sich ihren Weg bereiten und zu Ende führen werde, was sie begonnen." Niemand konnte weiter als er entfernt sein von jenem Optimismus, wie ihn der gewissenlose Mißbrauch

st Gladstone, p. 15. Deutsche Uebersetzung S. 11.