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Deutsche Rundschau.
den erhabensten griechischen oder lateinischen Vers auf eine Fa^ade: nur Auserwählte lesen und verstehen ihn. Strophen von Goethe oder Schiller gehen Allen zu Herzen. Für uns Deutsche gibt es kein Idyll des Familienglücks ohne deutsches Haus, ohne die Requisiten Fenster, Ofen, Wiege, Lehnstuhl u. s. w. Ließen wir uns dafür etwa das Atrium substituiren mit seiner frostigen Penaten- reihed Leicht ist der Jüngling im Hochgefühl seiner Volljährigkeit darzustellen, indem man zeigt, wie er wanderlustig sich dem Elternhause entringt. Der entsprechende antike Ausdruck würde sein: Bekleidung mit der loga virilw. Wem genügte dieses Bild? Den Römer beunruhigte eben kein Sentimentalitätskampf zwischen Hangen am Heim und Sehnen nach der goldenen Freiheit. Ferner ist Alles, was sich für uns an das Zeichen der Fahne knüpft, mittelalterlichen Ursprungs. Das klassische Signum bedeutet uns nichts, der Anblick des rauschenden deutschen Banners schwellt Tausenden die Brust. Manch kecker Gesell möchte Wohl noch Lust spüren, in die Reihen eines Fähnleins frommer Landsknechte einzutreten, gewiß nicht in die von Hopliten oder Peltasten." Doch genug der Beispiele.
Es gibt ohne Zweifel Realisten, welche dieses Capitel nur mit Kopfschütteln lesen werden. „Wozu überhaupt," so höre ich sie sagen, „euer Visioniren nach rückwärts, euer Mummenschanz mit todtem Zeug? Die Kunst lebt nur im Lebendigen." Freilich, doch bringt sie nicht auch Leben, wohin sie greift? „Das Mittelalter," könnte man antworten, „war dem Romantiker so vorhanden, wie er sich's mittelst seines Künstlerrechts dachte. Keine Gegenwart ohne Vergangenes und Zukünftiges, ohne Erinnerung und ohne Hoffnung. Fehlte Beides, so würde sich das irdische Dasein im Kampf mit der Materie erschöpfen. Dem Menschen aber wohnt ein jeder anderen Creatur versagtes Potenci rungsvermögen inne, und die Kunst ist es, welche diesem Schwingen leiht. Sie erhebt in das Reich der Schönheit und läßt dort Mühselige und Beladene schon hinieden,
Weibes zu umkleiden verstanden hat. Auch ist insbesondere uns Christen ein tiefer Respect für Flügelwesen anerzogen: wir begrüßen dieselben gern als gute Engel, ohne viel nach dem Taufschein zu fragen. Insofern müßte also auch die Victoria unserem Empfinden vertraut geworden fein, zumal gerade sie den ausgiebigsten Gebrauch von ihren Schwingen macht. Es ist dies aber meiner Beobachtung nach beim Volke — wenn es überhaupt ein Volk für die bildende Kunst gibt — kaum der Fall. Ich suche den Grund dafür nicht in der Wohl zu subtilen Reflexion, daß die hervorragend heidnische Göttin einst über allen Triumphwagen römischer Imperatoren schwebte daß ihr metallenes Bild vielleicht das letzte war, welches sich im brechenden Auge der mitgeschleppten germanischen Gefangenen spiegelte, sondern in dem Sinne dessen, was sie perfonificirt. Den Sieg, selbst den glorreichsten, würdigen wir nicht als normalen Zustand, sondern als Noth- behelf, um den Frieden wieder aufzurichten. Charakteristisch kommt die Victoria geflogen; heute beglückt sie dieses, später jenes Volk. Sie ruhet und dauert nicht. Sie bietet auch kein recht dankbares plastisches Problem, denn, Von Weitem gesehen, macht das flatternde Gewand den Umriß ihrer Gestalt unklar, gibt ihr etwas Fledermausartiges. (Wie herrlich wirkt dagegen z. B. der unbekleidete Merkur des Giovanni da Bologna!) Solcher Schwierigkeit ist selbst Rauch bei seiner schwebenden Victoria nicht ganz Herr geworden — von unserer goldenen Göttin auf dem Königsplatze zu geschweigen, welche einem Franzosen den Ruf entlockt haben soll: „!^c>u8 soniEs V6NZ68!" Keine würdigere Aufgabe für den Bildhauer, als die schlichte Gestalt des Friedens. Jede Stadt, meine ich, sollte ihren Schutzengel von hoher Säule auf sich niederblicken lassen.