Berliner Musikleben.
Berlin, 10. Januar.
Diese Ueberschrist, die wir als Erbe aus der jugendsrischen, reichbewegten Jüngstvergangenheit der deutschen Tonkunst antreten, ist heute ein starker Euphemismus geworden. Uns wenigstens will es bedünken, als ob trotz der unaushörlichen Bewegung, in der unser hauptstädtisches Musikwesen sich befindet, und trotz des öffentlichen Aussehens, das es Tag für Tag erregt, die Bezeichnung „Leben" doch nur eine schöne Redensart sei. Erschöpfung und Stillstand ist beinahe aus allen Gebieten der musikalischen Production wahrzunehmen, und statt der warmen, nachschaffenden Theilnahme des Volkes begegnet man im Opern- wie im Concertsaal zumeist nur der Gleichgültigkeit oder der erregungsbedürftigen Ueberbildung eines sogenannten Premisrenpublicums. Von einem einheitlichen großen Zuge, der Schaffende und Genießende zugleich erfüllte, ist wenig zu spüren, und nur spärlich sind die Zeichen, welche zur Hoffnung berechtigen, daß die musikalische Kraft der Nation in Bälde zu jener Steigerung und Vollentsaltung gelange, aus der allein die Entstehung einer neuen Kunst zu erwarten ist. Darin aber, in der Fähigkeit zur Weiterentwicklung, liegt die zuverlässigste Bürgschaft für das Leben einer Kunst. Wo diese Triebkraft fehlt oder sich als zu schwach erweist, da liegt die Gefahr nahe, daß die Kunstpflege dem Spieltriebe verfalle und die Kunst selbst ein Scheindasein führe, das man kaum ein Leben, sondern im günstigsten Falle nur ein Treiben nennen kann. Unsere Zeit ist dieser Gefahr nicht entgangen, und als ein bloßes Musiktreiben erscheint uns das vielgerühmte. Berliner Musikleben in dem Augenblicke, da wir das letzte Jahrzehnt des Jahrhunderts beginnen.
Das Wort ist hart und bedarf in seiner Bündigkeit, als Urtheil über so viele und so verschiedenartige Erscheinungen, im Einzelnen natürlich der Einschränkung; aber trotzdem glauben wir es, um einiger Ausnahmen willen, nicht unterdrücken zu dürfen, da es den Gesammtcharakter des Berliner Musikwesens nach unserem Ermessen richtig kennzeichnet. Es zu erläutern und zu begründen, wird der nachfolgende Bericht über die musikalischen „Ereignisse" während der ersten Hälfte der Spielzeit, October bis December 1890, reichlich Gelegenheit bieten.
Zunächst ein wenig Statistik. Die Concertzeit wurde diesmal schon am 4. October eröffnet. Von jenem Tage ab bis zur Jahreswende hat Berlin zehn große Orchester- concerte, neun Chorausführungen, sieben Quartettabende und über fünfzig Solistenconcerte erlebt. Rechnet man dazu noch die populären Wochentagscoucerte des philharmonischen Orchesters, welche sich in bemerkenswerther Weise über die Durchschnittshöhe derartiger Veranstaltungen erheben und beinahe durchweg nur elastische oder gediegene moderne Musik pflegen, so erhält man die runde Zahl hundert: hundert Concerte in achtundachtzig Tagen. Dabei sind die Wohlthätigkeits- und Kirchenconcerte, die musikalischen Unterhaltungsabende in der Philharmonie und im Concerthause nicht in Betracht gezogen. Die Frage, ob dieser unmäßigen Ausdehnung des Concertwesens das musikalische Bedürsniß der Reichshauptstadt entspricht, darf ruhig verneint werden. Berlin