Issue 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

ist zur Zeit weder groß noch reich, noch müßig und überbildet genug, um einen solchen Musiksegen ohne Gesahr zu ertragen, und es ist ein offenes Geheimniß, daß nicht nur die Mehrzahl der Solisten und darunter oft treffliche Künstler bei ihren Concerten kaum auf die Kosten des Abends kommen, sondern daß auch die Auf­führungen großer und interessanter Chorwerke beim Publicum nicht genügend Theil- nahme finden, um die Concertgeber vor beträchtlichen Geldeinbußen zu bewahren. So bedurfte es jüngst der Opserfreudigkeit eines begeisterten Musikfreundes, um in Berlin, das dem äußeren Anscheine nach doch eine Musikstadt pur exesllenes sein müßte, eine erste Ausführung von Hector Berlioz' dramatischer Legende,Fauslls Verdammniß", zu ermöglichen, da auf eine Deckung der bedeutenden Kosten durch die Einnahmen von vornherein nicht gerechnet werden konnte.

Es ist einleuchtend, daß dieses Mißverhältniß zwischen den Bestrebungen oder der Geschäftigkeit der Musiker und Musikdirectionen einerseits und dem Interesse der Zuhörer andererseits für eine gesunde und gedeihliche Entwicklung der Musikpflege nur Von sehr nachtheiliger Wirkung sein kann, da dadurch die feinen Wechselbeziehungen zwischen Kunst und Leben gestört werden. Wer aber aus Geschichte oder Erfahrung den Werth lebensvoller Anregung für die Kunst, die Bedeutung künstlerischer Erziehung für das Leben zu bemessen weiß, wird aus einer fortdauernden Gefährdung ihrer Ein­heit sowohl für die Musik als für das moderne Leben nur Schädigung erwarten. Solchen Schaden weist unsere Concertmusik und ihre Pflege nach allen Seiten hin auf, und es ist wahrlich nicht Schwarzseherei, wenn man am Leben dieser Art Musik zu zweifeln wagt. Wir haben Theater, welche ausschließlich dem modernen, zeitgenössischen Drama geweiht sind und die dabei trefflich gedeihen. Es ist sehr fraglich, ob irgendwo im Deutschen Reiche eine Concertleitung sich fände, die den Muth hätte, die gleiche Begünstigung der zeitgenössischen Musik zu Theil werden zu lassen; aber ganz außer Frage steht, daß ein solcher Wagemuth an der Gleichgültigkeit des Publicums zu Falle käme. In Berlin wenigstens wäre solchem Neuerer mit Sicherheit ein baldiger Untergang zu prophezeien. Mag nun die Musik oder das Publicum an diesem Miß­stand Schuld tragen, gleichviel: als ein Zeugniß blühender Frische und Vollkraft für unser deutsches Musikleben wird er keinesfalls gelten können.

Wir haben lange bei dieser unerfreulichen Betrachtung verweilt. Aber es scheint uns, daß diese eigenthümlichen, unnatürlichen Verhältnisse des heutigen Musikwesens nicht ohne Einfluß aus die Entwicklung und den Charakter unserer Musik geblieben sind. Es war daher unerläßlich, sie zu berühren, zumal aus solcher Erörterung sich auch am sichersten der Maßstab erkennen läßt, nach dem hier Künstler und Kunst­werke beurtheilt werden sollen. Ein Maßstab, der natürlich anders beschaffen ist als der, nach dem die Tageskritik von Fall zu Fall Lob und Tadel vertheilt.

Und nun zur Sache! Die Oper, die sich rüstig emporarbeitet und der für einzelne ihrer Leistungen in dieser Spielzeit selbst ihre strengsten Richter und Splitter­richter die Anerkennung nicht versagen konnten, hat uns vier Werke gebracht, die nach Maßgabe der Verhältnisse als Neuheiten gelten mußten: Marschner^sVampyr", WeberLsOberon" mit den Wüllnerffchen Recitativen, Wagner^sTannhäuser" in der Pariser Bearbeitung und endlich Ditterdorf'sDoctor und Apotheker". Ganz neu war für das Berliner Opernhaus unter diesen Werken nur derVampyr", der am 28. März 1828 zu Leipzig seine erste Aufführung erlebte und mithin volle zweiundsechzig Jahre an den Pforten der königlichen preußischen Hofbühne auf Einlaß harrte. Die Oper von Dittersdorf war seit Beginn der fünfziger Jahre aus dem Spielplan verschwunden, also unserer Generation so viel wie unbekannt. Die Pariser Bearbeitung desTannhäuser" stammt aus dem Jahre 1861, Wüllner's Versuch, den Schwanengesang Webers durch Hinzufügung von Recitativen bühnenmäßiger zu gestalten, datirt etwa zehn Jahre zurück. Sollte Jemand versucht sein, aus diesen Jahreszahlen auf eine besonders starke Aeußerung des Lebenstriebes im modernen Berliner Musikleben zu schließen? Wir bezweifeln es.