Berliner Musikleben.
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Marfchner's „Vampyr" erfreute sich der endlich erlangten Gastfreundschaft nicht lange; er erlebte nur drei Vorstellungen und verschwand bald wieder von der Spielordnung. Begreiflich genug, da unsere Zeit über der Erkenntniß all' der Schrecken und Entsetzen, welche sich in der Alltäglichkeit des Lebenskampfes offenbaren, der empfängliche Sinn für die Schauer einer phantasiegeborenen Uebernatur verloren ging. Heute, da wir durch den Roman und durch die Bühne eine immerfort sich steigernde Einsicht in das Wesen und Leben der „menschlichen Bestie" gewinnen, bedarf es keiner geheimniß- vollen Vampyrgeschichten mehr, um uns das Gruseln zu lehren. Der Musik Heinrich Marschner's in diesem Werke vermag man besten Falls die gelehrte Theilnahme des Musikforschers entgegen zu bringen, da unsere Zeit selbst über die Meisterwerke dieses im „Vampyr" sich ankündigenden romantischen Kraftstils, über Marschner's „Hans Helling" und Richard Wagner's „Fliegenden Holländer" lange hinaus ist. Das aber sollte bei den jetzt so beliebten „Ausgrabungen" als Gesetz gelten: nur Werke von ausgesprochener Eigenart, Schöpfungen eines durchgebildeten, in sich vollendeten Kunststils, Opern, die als letzter und stärkster Ausdruck einer vergangenen Kunstepoche gelten können, haben ein Anrecht darauf, in die Oeffentlichkeit wieder eingeführt zu werden, denn nur von solchen läßt sich eine befruchtende Anregung für die moderne Musik, oder zum mindesten ein erziehender Einfluß auf die Hörer erwarten. Wird von der Erfüllung dieser Vorbedingungen abgesehen, so ist die Aufführung alter Opern eine gelehrte Spielerei oder ein leerer Zeitvertreib, nur dazu angethan, die musikalische Bühne ihren wirklichen Aufgaben und dem Leben zu entfremden. Was Marfchner's „Vampyr" betrifft, so entspricht er, trotz aller Schönheiten im Einzelnen, den oben aufgestellten Anforderungen in keiner Weise, und das werthvollste Ergebniß der Aufführung war Wohl die überzeugende Belehrung, daß wir im Schöpfer des „Hans Helling" nicht nur das bedeutsame Mittelglied zwischen Weber und Wagner, sondern auch den unmittelbarsten und einflußreichsten Vorgänger Lortzing's zu verehren haben.
Ein besseres Schicksal als dieses düstere, romantische Nachtstück hatte dessen sonniges, in zauberhafter Schönheit erscheinendes Gegenbild, der „Oberon", der es in kurzer Zeit auf einige zwanzig Aufführungen brachte. Mag dahin gestellt bleiben, ob dieser für unsere Verhältnisse außergewöhnliche Erfolg mchr der herrlichen Musik C. M. von Web er's oder der kostspieligen Ausstattung mit ihrer Farbenpracht und ihren Lichterspielen zu danken sei. Auch die wichtige, gerade in diesem Falle ernstlich sich aufdrängende Frage nach dem Werth und der Berechtigung eines solchen übermäßigen Scenenprunkes muß für heute unerörtert bleiben. Dagegen können wir uns ein Wort über die musikalische Bearbeitung nicht versagen. Dieselbe besteht in der Ersetzung des gesprochenen Dialogs durch Recitative. Wüllner hat dazu Motive aus der Partitur und gelegentlich auch melodisches Material aus anderen Weber'schen Tonstücken benutzt und in sehr geschickter Weise verwerthet. Er hat dafür bei der Presse viel Lob geerntet. Trotzdem erscheint es uns fraglich, ob die Folgezeit dieses Urtheil bestätigen und ob die Wüllner'sche Bearbeitung dauernd sich behaupten werde. Ganz abgesehen davon, daß an einigen Stellen die sonst mit Recht gerühmte Anpassung an die Schreibweise Weber's doch nicht so gelungen ist, um ein feines Stilgefühl täuschen zu können, und daß einzelne Semen, wir denken dabei namentlich an die Episode in Tunis, durch die Musik eine unverhältnißmäßige Ausdehnung erhalten, wird sich die Umarbeitung des duftigen Märchenspiels in eine große romantische Oper aus dem Grundcharakter des Stückes schwerlich rechtfertigen lassen, und was das Werk durch die bedeutende Verschleppung im Tempo der Handlung an Frische, Lebendigkeit und Zauberhaftigkeit verliert, wird nicht ausgewogen durch die äußerliche stilistische Einheit. In München, wo man mit der Wüllner'schen Arbeit schon vor zehn Jahren einen Versuch machte, ließ man nach kurzer Zeit die Recitative wieder durch den Dialog ersetzen und behielt nur die Uebersetzung und treffliche scenische Einrichtung von Franz Grandaur bei, die musikalische Ergänzung aber wanderte ins Archiv, wo sie anderen derartigen „Bearbeitungen", wie z. B. den Recitativen Heinrich Proch's zu Nicolai's „Lustigen Weibern" Gesellschaft leisten kann.