Issue 
(1891) 66
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Berliner Musikleben.

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Wer von Wien, von München oder aus den rheinischen Städten nach Berlin kommt und sich die Mühe nimmt, die Beschäftigung der Singakademie und des Stern'schen Vereins scharf ins Auge zu fassen, der wird sich über die Langsam­keit der musikalischen Entwicklung in der Reichshauptstadt verwundern. Ist er aber ein Culturhistoriker, so wird er sich nicht wenig freuen, daß man zu seiner Belehrung ein Stück altväterischen Musikwesens genau und treu so forterhalten hat, wie es in der guten alten Zeit" der vierziger Jahre ausgesehen haben mag. Wir wollen heute nicht näher auf die Thätigkeit der beiden Vereine eingehen, sondern unseren Bericht darüber bis zum Abschluß der winterlichen Concertzeit verschieben; hoffentlich bieten die nächsten Aufführungen Gelegenheit, unser Urthril zu modificiren. Bezeichnend aber müssen wir es doch heißen, daß Berlin die einzige bedeutende Chorneuheit, die es in diesem Winter zu hören bekam, nicht einem jener großen und reichen Vereine zu danken hat, sondern einer Gesellschaft, die lange nicht über so viele Chorkräfte und Geldmittel verfügt: dem Richard-Wagner-Verein Berlin. In Wahrheit war die Aufführung der dramatischen LegendeFan st's Verdammniß" von Hector Berlioz unter der Leitung des Professors Karl Klindworth das einzigeEreigniß", das während der drei ersten Concertmonate auf dem Gebiete des Oratoriums zu verzeichnen ist. Der Erfolg war denn auch ein so starker, daß der Verein es wagen konnte, dem Wunsche der Presse zu willfahren und eine zweite Aufführung stattfinden zu lassen. Da aber wurden die kläglichen Folgen der übermäßigen Berliner Musik­macherei, jener Eingangs berührte Mangel an lebendigem Musiksinn wieder einmal offenbar: das Werk, dessen Stoff jeden gebildeten Deutschen anziehen mußte, dessen eigenartige, meisterliche musikalische Gestaltung von der Kritik ziemlich einhellig an­erkannt worden war, fand nicht so viel Theilnahme als erforderlich ist, um den Saal der Philharmonie ordentlich zu füllen. Trotzdem darf man von einem glänzenden Erfolg des Werkes reden, denn die Hörer ließen es beide Abende an rauschendem Beifall nicht fehlen und verlangten die Wiederholung verschiedener Nummern. Dieäamnatlon äs ^Lust/ft welche in Paris bereits über ein halbes Hundert Aufführungen erlebte, ver­dient aber auch unsere Bewunderung vollauf. Sie ist nicht nur eine sehr interessante, die starke Eigenart und die große Begabung des Tondichters ebenmäßig bekundende Arbeit, sondern eine Schöpfung von so kecker, lebensvoller Auffassung, von so persön­licher Empfindung und von so gewaltiger Gestaltungskraft, daß sie noch heute frisch und neu erscheint, während andere, berühmtere Werke gleichen Alters in ihrer Wirkung bereits zu verblassen beginnen. Berlioz ist zu feinem Werke geschritten unter dem gewaltigen Eindruck, den die Faustdichtung Goethe's auf ihn und seine Zeitgenossen machte; aber von dem ursprünglichen Plane, nur Scenen der Goethe'schen Tragödie in Musik zu fetzen, dem sein 1828 in Partitur erschienenes opus 1,butt sesnss äs Oaust.", die Entstehung verdankt, wich er später, als er sich anschickte, seine Jugend­arbeit zu einer großen, einheitlichen Tondichtung umzuschaffen, gänzlich ab und ge­staltete sich seinedramatische Legende" frei nach den Wünschen und Bedürfnissen seines musikalischen Genius. Es ist daher schlecht angebracht, seine Figuren an den Goethe'schen Originalen zu messen und den Kunstwerth seines großartigen musikalischen Weltbildes, seiner fein durchgeführten Seelengemälde des Faust und der Margarethe, seiner glänzenden Charakterstudie des Mephisto durch die Vergleichung mit dem größten Gedicht der deutschen Literatur herabsetzen zu wollen. Berlioz' Tondichtung und ihre Helden haben eigenes, individuelles Leben. Soll man aus dem überreichen Schatz, den die vier Theile des Werkes bergen, die kostbarsten Stücke herausheben, so wird man in erster Linie die farbenprächtigen Schilderungen: Bauerntanz, Rakoczimarsch, Einschläferung Faust's, Sylphentanz, Jrrlichtermenuett und vor Allem die Höllenfahrt nennen. Nicht minder bedeutend sind aber einzelne der rein lyrischen Nummern, so namentlich die stimmungsvolle Komposition der Ballade vomKönig in Thule" und die von wahrhaft erhabenem Geiste erfüllteBeschwörung der Natur". Angesichts solcher Eingebungen, wie diese wunderbar tief empfundene Scene und das geniale Mephistoständchen, will es wenig bedeuten, daß die Liebesscene mißglückt ist und daß