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Deutsche Rundschau.
auch Gretchen's Klage um die verlorene Ruhe ihres Herzens den Charakter einer aus unmittelbare Wirkung abzielenden Opernnummer nicht ganz verleugnen kann, und wir lernen begreifen, wie Hans von Bülow den Franzosen Berlioz als denjenigen Tonmeister bezeichnen konnte, „der Beethoven am tiefsten nachempfunden und nachgedichtet hat."
Neben diesem Meisterwerk, das Dank Klindworth's feinsinniger Leitung und der hervorragenden Leistungen namhafter Solisten (Faust: Nicolaus Rothmühl, Margarethe: Emilie Herzog, Mephisto: Emil Blauwaert) in vorzüglicher Weise zur Aufführung gelangte, vermochten nur ein wenig bekanntes Oratorienfragment „Christus" von Mendelssohn-Bartholdy und Handelns „Acis und Galathea" mit neuer Instrumentation von Felix Mottl unsere Theilnahme tiefer zu erregen. Beide Werke wurden durch den jungen Philharmonischen Chor (Dirigent: Siegfried Ochs) in trefflicher Weise zum Vortrag gebracht. Der Arbeit Mottl's, welche den Zeitcharakter des HLndel'schen Schäferspiels, das Rococo der Composition etwas stört, aber dafür deren dramatische Eindringlichkeit verstärkt, ist großes Geschick und ein guter Geschmack nachzurühmen. Am Schlüsse sei auch der frischen Leistungen der Berliner Liedertafel (Dirigent: A. Zander), die mit Heinrich Hofmann's dankbarem Chorwerke „Harald's Brautfahrt" einen vollen Erfolg hatte, ein Wort der Anerkennung gewidmet.
Unter den großen Orchesterconcerten nehmen in der Gunst des Publieums noch immer diejenigen, welche die Concertdirection Hermann Wolsf unter der Leitung Hans v. Bülow's in der Philharmonie veranstaltet, die erste Stelle ein. Die geniale Persönlichkeit ihres Leiters sichert diesen Philharmonischen Concerten, deren bis zur Jahreswende sünf stattsanden, ihren Vorrang im Berliner Musikleben, trotzdem die Leistungen des Orchesters, was Tonfülle und Klangschönheit betrifft, mit denjenigen der königlichen Capelle nicht wetteifern können. Den Haupttheil der Programme nehmen die Symphonien unserer Klassiker ein, und wer da weiß, mit welchem meisterlichen Geschick Bülow seinen Hörern das verwickeltste thematische Gewebe klar zu machen versteht, mit wie viel Geist und Scharssinn er den Absichten des Tondichters nachzukommen sucht und mit welcher Sorgfalt er seine Orchestervorträge vorbereitet, kann sich nur freuen, daß dieses edelste musikalische Besitzthnm der Nation einen so treuen Hüter gesunden. Daß er daneben einer der berufensten Interpreten moderner Musik geblieben ist, hat er auch diesen Winter durch eine herrliche Aufführung des Vorspiels zu den „Meistersingern" und eine ganz unübertreffliche Wiedergabe der Wagnerischen „Faustouverture" erwiesen. Weniger glücklich dagegen zeigte sich feine Hand in der Wahl der Novitäten, die er einer Aufführung unter feiner Leitung würdigte; keine derselben hatte einen nachhaltigen Erfolg. Eine „Serenade" von Robert Kahn, der im Vorjahre durch verschiedene Kompositionen das Interesse der musikalischen Kreise erregt hatte, fiel ziemlich ab. Wer bei nachtschlafender Zeit auszieht, um Musik zu machen, dem muß die Liebe im Herzen oder der Schalk im Nacken sitzen, wenn er will , daß Jemand auf ihn achten foll; dem viersätzigen Opus von Kahn fehlt es aber durchweg an einer tieferen Empfindung und trotz aller Orchesterkünstchen auch an Erfindung. An letzterer mangelt es zwar der „Norwegischen Rhapsodie" von I. Svendfen und' ihrem Gegenstück, der „Slawischen Rhapsodie" von A. Dvorak keineswegs, wohl aber an einem bedeutenderen Lebensgehalt; es sind beides gut gearbeitete, hübsch klingende, aber allzu lose gefügte Zusammenstellungen nationaler Volksweisen, die einen tieferen Eindruck nicht zu hinterlaffen vermögen. Der Titel „Rhapsodie" erscheint uns bei derlei Erzeugnissen nur als ein der Tagesmode entsprechender Ersatz für das verächtlich gewordene Wort — Potpourri. Eine Ouvertüre zu „Antonius und Cleopatra", ein neues Werk Anton Rubinstein's, fand sehr verschiedene Beurtheilungen; keinesfalls kann es zu den besten Würfen des Meisters gezählt werden, weder seinem thematischen Gehalt noch feiner