Das Universitätsstudium der Neueren Kunstgeschichte.
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Die Geschichte, d. h. was wir Geschichte nennen, beginnt da, wo die ersten Ansänge dessen lagen, dessen Weiterentwicklung den heutigen geistigen Zustand hervorbrachte. Damit schließen wir alle die Thaten und Gedanken aus, die sür die Erkenntniß und Fortbildung dieses Zustandes werthlos sind. Damit, serner, kommen wir aus die Schicksale von vier Nationalitäten, deren sich verbindende geistige Anstrengungen den heutigen Zustand herbeiführten: die griechische, die römische, die semitische (jüdische), die germanische. Damit also stellen wir innerhalb der unübersehbaren Schicksale der seit unbekannten Jahrtausenden der Gegenwart entgegenschreitenden großen Menschheit eine bestimmt sich abtrennende Anzahl von Nationalitäten fest, deren Schicksale wir als das bezeichnen, was sür uns größere Wichtigkeit habe als alle anderen.
Eine Ausdehnung dieser beschränkten Ausfassung aber steht ohne Zweifel beute bevor. Wir treten hinweg von dem Standpunkte, von dem aus wir bisher nach rückwärts schauten, und das Gefühl, daß dem so sei, versetzt uns in Unruhe. Nicht um Gegenwart und Vergangenheit handelt es sich heute bei den Völkern, sondern mehr noch um Gegenwart und Zukunft, und für diese neu sich ausdrängende Anschauung der menschlichen Schicksale genügt es nicht mehr, den bisherigen Begriff der Geschichte festzuhalten, der sich sür die Vergangenheit ins Unermeßbare jetzt ausdehnt. Doch davon will ich hernach weiter sprechen, hier soll gesagt werden, daß wir, so unaufhaltsam die neue Weltansicht der Nationen hereinbricht, die Weiterführung des gewohnten historischen Studiums noch nicht zu entbehren im Stande wären. Wir bewundern wie bisher die dreitausend Jahre der hergebrachten Geschichte. Empfinden, welch' ungeheuere Reichthümer geistiger Art in dem liegen, was wir aufzugeben im Begriffe sind und was als Thatsache immer sortbestehen wird. Immer, so weit wir auch weiter schreiten, wird die griechische, römische, semitische und germanische gemeinsame Bewegung innerhalb dreier Jahrtausende hinter uns liegen als ein leuchtendes Phänomen, dessen Betrachtung niemals aufgegeben werden darf.
Innerhalb dieses Zeitraumes hat es bis jetzt eine feste Rangordnung der Gesichtspunkte gegeben, nach denen man den Werth der Völker beurtheilte und ihre Theilnahme an der allgemeinen Entwicklung abschätzte. Voran standen die Römer als die glücklichsten Krieger, Verwalter und Juristen. Dann kamen die Griechen als die heroischen Vertreter geistiger Güter. Dann die Germanen als Fortsetzer geringeren Grades dessen, was Römer und Griechen gewollt, und als viertes Element gingen die Semiten nebenher mit. Ich bezweifle, daß die Zukunft diese Ordnung nationaler Vornehmheit anerkennen werde. Es wird sich, was die Männer anlangt, weniger um die sichtbaren Thaten der eigenen Zeit, als um die, auch sür die zukünftigen Jahrhunderte wirksame, rein geistige Macht handeln, die ihnen innewohnte. Es wird sür die Rangordnungsbestimmung der Völker dagegen das mehr in Betracht kommen, was ich die nationale Phantasiearbeit nenne, und was auf den Universitäten als Kunst- und Kulturgeschichte gelehrt wird oder gelehrt werden sollte.
Ich wiederhole, was ich hier vorbringe, einfacher gefaßt, noch einmal:
Eine Ausdehnung des Begriffes „Geschichte" steht bevor. Eine Geschichte, die den Zusammenhang aller Völker umfaßt, welche die Erde je bewohnt haben.