Heft 
(1891) 66
Seite
396
Einzelbild herunterladen

396

Deutsche Rundschau.

In das Studium dieser Geschichte als eines Ganzen sind wir im Begriff einzu­treten. Immer jedoch wird die griechische, römische, germanische und semitische gemeinsame Bewegung hinter uns liegen als eine in sich beschlossene Thatsache. Keiner Generation der jetzt beginnenden neuen Menschheit kann das Studium der vier Völker erlassen werden, Wohl aber bereitet sich für dasselbe ein neuer Maßstab vor. Wir haben bisher unter der Anschauung gestanden, daß die politische Bewegung der Völker das Maßgebende für ihren weltgeschichtlichen Werth im Ganzen, sowie für die Beurtheilung der einzelnen Gestalten sei: innerhalb der Geschichte der Zukunft wird nur der Umfang der geistigen Gewalt eines Mannes, ganz im Großen gemessen, seinen Werth bezeichnen. Von ihm muß heute schon ausgegangen werden, wenn wir der Bedeutung der Kunst- und Kulturgeschichte, oder besser gesagt: der Phantasie- und Gedankenproduction der Nationen gerecht werden Wollen.

Mit den Griechen beginnen wir. Was vor ihnen liegt, liefert keinen Stoff für die Entsaltungsgeschichte von Individualitäten, ohne die die Ereignisse uns nichts angehen. Die frühe ägyptische Geschichte, so höchst intime Einblicke in seelisches Leben sie gestattet: keine Gestalt enthält sie, die uns als Individuum anmuthete. Auch die biblischen Figuren der ältesten Zeiten sind problematisch- mythischer Art, und ihr Pulsschlag entspricht nicht dem unseren. Die Griechen zuerst erwecken ein verwandtschaftliches Gefühl in uns.

Nehmen wir die Entwicklung der griechischen Welt von den Zeiten Homer's bis zum Erliegen der Griechen unter den Römern als politischen Herren, so theilt sich die gesammte Masse der hier sichtbaren Menschen und Ereignisse in eine reale und eine ideale Hälfte. Innerhalb der einen alle politischen Thaten und ihre Urheber, innerhalb der anderen alle Jdealgestalten und ihre Ur­heber. Kein Zweifel kann walten, daß die letzteren die lebendigeren, inhalt­reicheren sind. Sie allein haben wir so vor uns, wie sie erstanden, während die Thatsachen des politischen Daseins nur unheilbar mangelhaften Nach­richten zu entnehmen sind. Ohne die eine ideale Hälfte würde die griechische Geschichte für uns heute kaum noch Werth haben, ohne die reale Hälfte an Werth kaum etwas verlieren. Die ideale ist die vornehmere. Sie fordert höchstes kritisches Beobachtungsvermögen unaufhörlich neu heraus. Aus ihr beruht unsere heutige geistige Bildung. Wir fühlen uns ihrem Inhalte verwandtschaftlich nahe. Alle Bemühungen, die geistige Bildung unserer heutigen Generation von der Kenntniß dieser Anfänge zu befreien, sind machtlos. Die Gestalten der griechischen bildenden Kunst und Dichtung und die Künstler und Dichter, denen wir sie verdanken, sind der wichtigste Theil des griechischen Jahrtausends.

Bis hierher könnten Kunsthistoriker und politische Historiker der bisherigen Observanz vielleicht die gleiche Straße wandeln. Mit dem Eintritte der Römer in die Menschheitsentwicklung aber beginnt ein Zwiespalt.

Der Moment kam, wo die griechische und römische Interessensphäre feindlich zusammenstießen, wo die Griechen von den Römern genöthigt wurden, als dienende Nation die juristische, politische und soldatische Organisation der Römer anzu­nehmen oder zu dulden. Wir nennen das: Besiegung der Griechen durch die Römer. Wir heute ertheilen der geistigen Arbeit Roms an dieser Stelle der