Heft 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

IV.

Das zweite Jahrtausend.

Christus steht uns in doppelter Gestalt hier vor Augen. Zuerst so, wie die Glaubensbekenntnisse der Religionen ihn erscheinen lassen: daneben wie seine irdische Lebensarbeit ihn als Menschen neben anderen Menschen zeigt. Nur von seiner Persönlichkeit in dieser Gestalt Will ich hier seht reden.

Ich glaube, daß Christus und die Anfänge der von ihm begründeten Ge­meinschaft in der Geschichtserzählung der Zukunst eine andere Stelle einnehmen werden. Biographen verschiedener Consessionen weben seine Schicksale zu etwas historisch Glaubwürdigem zusammen, dem sie durch allerlei Mittel mehr oder weniger realistischen Schimmer verleihen. Man darf Wohl sagen, daß diese Art Geschichtschreibung der Christusbiographen, bei welcher zuweilen nicht klar ausgesprochene Nebenabsichten mit unterlaufen, etwas Unerfreuliches hat, so daß man seine eigenen Ansichten über diese verehrungswürdigste Erscheinung des gesammten Menschengeschlechtes lieber zurückhält denn auch die vorsich­tigste. objectivste Betrachtung Christi könnte Anstoß erregen: dennoch wird es erlaubt sein, zu sagen, daß, wenn wir den Christus der Evangelien als Charakter zu den übrigen Persönlichkeiten seiner Zeit in festen Gegensatz bringen, wir das Gefühl einer sicheren, erklärbaren, außerordentlichen Seelengewalt ge­winnen, die innerhalb der semitisch-griechischen Welt von unwiderstehlicher Wirkung war. Diese Verbindung colossaler Sanstmuth und colossaler Kraft deutet einen Charakter an. Ich glaube, daß die Geschichte der Zukunft das Sichbilden der ersten Christengemeinden im Orient dem Ueberspinnen der ganzen damaligen Welt mit römischer Autorität als das eigentlich Lebendige im Fortschritte der Menschheit entgegensetzen wird. Ausgehen wird man künftig, wenn es sich um die maßgebende Formel für die Epoche handelt, nicht von den bunten Schicksalen des auf- und abwogenden römischen Kaiserreiches, sondern von den neunzehn Jahrhunderten persönlicher Wirkung, die, mag man ihren Urheber mit noch so viel Mythologie umhüllen, auf Christus als eine historisch fest gebaute Macht höchsten Ranges Hinweisen. Denn wo geistiger Einfluß ist, da steht ein Mann, und seine Kraft ist als dem Umfange dieser Macht entsprechend anzu­nehmen. Ob wir mehr oder weniger Notizen über Christus' tägliches Thun haben, ist Nebensache. Er hat dagestanden, wenn auch noch so verborgen. Mir erscheint was seine modernen Biographen Hervorbringen, viel zu süß und sentimental. Man verzeihe die unbefangene Ausdrucksweise. Christus besaß ungeheure Widerstandskraft. Das muß auch in seinem Auftreten gelegen haben.

Die Wirkung seiner Lehre ist die wichtigste Thatsache aller Geschichte über­haupt. Mögen wir uns zu ihrem Inhalte stellen, wie wir wollen: es ist einst­weilen nichts denkbar, was den Erfolg einer einzelnen menschlichen Existenz durch­greifender dastehen ließe als der von Christus ausgehende.

An die Stelle der die Phantasie im höchsten Maße anregenden, das Herz des Menschen aber nicht befriedigenden Philosophie, die doch nur dem an das Denken gewöhnten Höhergebildeten sich erschloß, setzte er einige wenige jedem Menschen verständliche Sätze, deren Geheimniß in dieser einfachsten Zusammen-