Das Universitätsstudium der Neueren Kunstgeschichte.
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Die Epoche der italienischen Städtefreiheit wäre unverständlich ohne die Meister des Quattrocento. Sie enthüllen die Denkart der bürgerlichen Kreise ebenso wahrhaft wie die Chroniken.
Den inneren Gehalt der Epoche der Papsthoheit vor dem Einbrüche der Reformation repräsentiren Lionardo, Raphael und Michelangelo reiner noch als die Geschichtschreibung.
Die Zeiten der Karolinger zeigt Waltharius, die der Staufen zeigen die Nibelungen und Walther.
Luther's und der Seinigen Gedanken finden in Dürer und Holbein eine unentbehrliche Erläuterung.
Velasquez, Rubens und Vandyck gehören zu den anschaulichsten Geschichtsquellen der Epoche des habsburgischen Glanzes.
Rembrandt illustrirt das Wesen des protestantischen Geistes, der in den Niederlanden sich der katholischen Uebermacht siegreich entgegenstemmte.
Shakespeare und Milton enthalten den Geist der englischen Geschichte.
Corneille und Poussin zeigen die Männer und Gedanken der Tage Ludwig's XIII.
Racine, Molitzre und Lebrun stellen die Epoche Ludwig's XIV. dar.
Ich gehe nicht weiter; für das achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert sind die Gesichtspunkte zu genau bekannt, als daß aus Einzelnes hinzuweisen wäre. Je näher wir unseren Zeiten kommen, um so unmöglicher wird es überhaupt, geistige Größe jeder Art für sich allein zu verstehen. Die heutige Aufgabe der öffentlichen historischen Lehrtätigkeit geht dahin, der Heranwachsenden Generation zu zeigen, in wie ungeheurer Breite der Strom menschlicher Arbeit dahinfluthe. Die letzten zwanzig Jahre unserer Deutschen Ereignisse haben uns überzeugt, daß die Erkenntniß politischer Männer und Thaten früherer Zeiten schwerer sei als wir dachten. Für mein Gefühl beginnt mit den Tagen der Reformation erst die Möglichkeit, Charaktere glaubhaft zu construiren. Karl der Große und Ludwig, die Ottonen, die Staufer, Dante, ja sogar Walther von der Vogelweide bleiben mythisch unsicher. Man erkennt nur die Kraft, aber nicht die Individualität. Dies der Grund, warum das Interesse für das, was weiter zurückliegt, nachgelassen hat. Die socialen Bewegungen der neuen Zeit, der heutigen Tages Asien, Afrika, Amerika und Australien gleichzeitig voll umfassende politische Kampf der Parteien und der Rassen nimmt bei dem Bewohner der heutigen Gegenwart so colossale Bestände von Gedanken und physischer Bethätigung in Anspruch, daß die geistigen Bewegungen der antiken Welt kaum noch in Betracht kommen würden, träten die Phantasieschöpfungen der Griechen, deren unübertreffliche Größe und Wahrheit nun um so höher aufleuchtet, nicht auch jetzt noch für sie ein. Hier erkennen wir die welthistorische Bedeutung der Künste als Material für historisches Verständniß der Weltgeschichte. Nicht ohne eine ganze Lebenserfahrung zu Rathe zu ziehen
urtheilte Schinkel, daß die Kunstwerke das feinste historische Material seien. Die Charaktere, die Homer, Sophokles und Aeschylos vor uns entfalten, sind die wahren Griechen, die Urtypen des menschlichen Geschlechtes, die realen Repräsentanten gewesener Menschheit. Je mehr wir uns in den Stand
Deutsche Rundschau. XVII, 6. 26