Heft 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

gesetzt sehen, mit den Blicken der Gegenwart zu übersehen, was im Bereiche der Kunst in den uns bekannten rund dreitausend Jahren der allgemeinen Menschengeschichte überhaupt geschaffen worden ist, um so strahlender sticht aus dieser ungeheuren Masse die Arbeit hervor, die das kleine griechische Volk gethan hat. Wir wissen nicht, wie viel Millionen oder nur Hundert­tausende es stark war in seinen Sitzen um den äußersten Theil des an sich schon so kleinen mittelländischen Meeres, der das Centrum seiner Existenz bildete; ihre Werke aber weisen den Griechen immer noch den ersten Rang an. Gleich den ihrigen bilden Dante's, Raphael's, Michelangelos, Dürer's, Shakespeare's Werke nicht nur Artikel des ästhetischen Genusses, sondern sind Thatsachen. Sehe man doch, in welch machtvoller Weise Goethe, von dem in meiner Jugend nur Wenige wußten, heute als historischer Factor sür die Gegenwart, sür die Zeiten der Freiheitskriege und für das vorige Jahrhundert fungirt.

VI.

Die Geschichtschreibung der Zukunft.

Empfunden ist der eintretende Wechsel der historischen Werthbestimmung längst Worden. In der ausgesprochenen Erfahrung, die Siege von 1870 seien mehr der inneren als der äußeren Macht verdankt worden, lag die Anerkennung, wie viel die denkenden Bestandtheile unserer Armeen gelten. Das historische Selbst­

bewußtsein unserer Heere lieferte 1870 die ausharrende Kraft. Es waren Siege des gesammten Deutschen Volkes in seinen edelsten Bestandtheilen. Die Schlachten des dreißigjährigen, ja sogar die des siebenjährigen Krieges sind rohe Gemetzel gewesen den heutigen gegenüber, und die Erfolge der römischen Legionen in den Kaiserzeiten erscheinen kaum als höher stehende Kraftproben. Was wären uns diese Feldzüge der Legionen, hätten sie in Tacitus nicht einen so wunderbaren Menschen als beschreibende Kraft gesundend Nur als Geschöpfe dieses Historikers sind die Römer von damals heute noch lebendig; todt liegen sie da, sobald er schweigt. Wir sind uns heute bewußt, im Darstellen wie im Handeln sei die geistige Kraft ohne jede beschränkende Bedingung das Maßgebende. Sie allein. Die Beschaffenheit und Wucht der geistigen Fähigkeiten der Völker und ihre Betheiligung am Fortschritt sind der vornehmste Gegenstand unseres Studiums. Die Zeit der Geschichtsklitterungen ist vorüber, wo man irgend einen Ausschnitt früherer Jahrhunderte didaktisch so darstellte, als sei, was heute geschehe, früher schon einmal als Beispiel und Vorklang vorweg geschehen. Niemandem wird mehr einsallen, heutige Weltparteifragen aus römischen oder griechischen, oder heutige religiöse und philosophische aus platonischen oder neuplatonischen Gesichts­punkten rückwärts blickend erklären zu wollen.

Die maßgebende Geschichtschreibung des heutigen Tages behandelt die Schick­sale unserer Zeit. Der Zeit, in der wir lebendig sind. Die uns täglich neu herausfordert. So haben Cäsar und Tacitus über ihre eigenen sTage einst geschrieben, so Voltaire, so Friedrich der Große. Für die Gegenwart schreibt auch Heinrich von Treitschke so. Geistige Arbeit jeder Art wird von ihm, als am allgemeinen Fortschritte gleichmäßig betheiligt, gleichmäßig be-