Heft 
(1891) 66
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Das Universitütsstudium der Neueren Kunstgeschichte.

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handelt. Bei der neuesten Zeit ist er in seiner Erzählung noch nicht an­gelangt. Der Historiker aber, der die Dinge von nach 1900 einmal glaub­würdig und als von ihrem echten Inhalte erfüllt darstellen will, wird die Gleich­berechtigung aller geistigen Factoren in viel höherem Maße walten lassen müssen.

Schon Treitschke wird es, wenn z. B. die Geschichte des Kriegsjahres 1870 geschrieben werden muß, nicht genügen, zu erzählen, was die Armeen thaten und die Staatsräthe und Diplomaten verhandelten: es wird eine Geschichte der öffentlichen Meinung innerhalb des ganzen Erdkreises hinzutreten müssen, eine Geschichte des Verhaltens der lebenden Capacitäten jeden Ranges den Ereignissen gegenüber, eine Geschichte des Verhaltens der Presse, der Volksvertretungen, des niederen Volkes, der Frauen. Denn für alle diese Gesichtspunkte ist Material vorhanden, und Material keiner Art darf vernachlässigt werden. Es wird auch darüber gesprochen werden müssen, in wie anderer Art man in Deutschland und Frankreich über die Ereignisse berichtete, und wie verschieden das Publicum diese Berichte aufnahm. Und all das darf nicht in unendlichen, unanfechtbaren, lang sich hinziehendeu Actenstücken uns vorgebreitet werden, sondern der Geist eines einzelnen überragenden Mannes hätte dies ungeheure Material in sich aufzu­nehmen und zu wenigen überzeugenden Sätzen zu formen. Die Geschichtschreibung der Jndiscretion hat ihre Zeit gehabt. All diese nur halb verrathenen Geheim­nisse sagen doch nur, daß unverrathene in der Tiefe liegen, die den wahren Schlüssel zum Geschehenen abgeben würden, wenn man sie eben jemals erführe.

Wir lernen immer mehr erkennen, wie ungeheuer schwer es sei, das, was alle Welt mit erlebt und zu kennen vermeint, so zu fassen, daß es der Zukunft als authentisches Bild der Ereignisse übergeben werden könne. Wer ist dazu berechtigt? Wer besitzt die Macht, das entscheidende Wort auszusprechen und ihm seine Autorität zu schaffen? Das Leben des Tages verwest. Die Tat­sachen erfahren im Bericht schon eine Umwandlung. Die Charaktere waren anders als wir sie kennen lernen, die Motive der Menschen und Völker andere; das sich Ereignende bietet heute und gestern einen anderen Anblick. Und ferner, jedes Volk hat seine eigene Art, dem, was es als Anblick seiner Vergangenheit und Gegenwart gelten lassen will, die Form zu verleihen, in der es die Dinge glaubt. So lange verhält es sich ungläubig, bis Jemand Menschen und Dinge so darstellt, daß es sich seinem Besserwissen unterwirft.

Ununterbrochen werden heute exacte Darstellungen historischer Ereignisse zzemalt, die aussehen, als sei der Maler dabei gewesen, während diese anscheinende Natürlichkeit künstlich geschaffen ist wie die Masken der Schauspieler, welche historische Gestalten darstellen als sähen wir sie leben. Ununterbrochen wird von Erzählern und Bildnern der Anschein vollster, verbürgtester Wirklichkeit rücksichtslos gefälscht. Dem Kunsthistoriker liegt auch die Ergründung der Bedingungen ob, unter denen die nationale Phantasieschöpfung als Lügnerin sich hier betheiligt. In meinen Vorlesungen suche ich darzulegen, aus der Mitte welches geistigen Daseins heraus bildende Künstler jeder Art ihre Werke geschaffen haben und wie ihre Zeit und spätere Zeiten diese Werke aufnahmen und auf sich wirken ließen. Ein Theil der Arbeit dessen, der sich mit der Kritik der nationalen Phantasieschöpsung be-