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Deutsche Rundschau.
schäftigt, besteht darin, die Gesetze zu erkunden, nach denen das sogenannte Wirkliche sagenhafte, poetische, gelogen reale Gestalt annimmt, unter welchen Bedingungen diese Phantasiegebilde emporkamen und von welchen Menschen sie hervorgebracht worden sind. Warum sie diese Macht haben. Worin ihre Anziehungskraft besteht. Ob sie eine Nothwendigkeit menschlicher Lebensbedingungen seien. Ja, ob Umwandlung des Geschehenen in legendäre Form nicht vielleicht die einzig mögliche Art sei, überhaupt Nachrichten zu hinterlassen dessen, was einst geschah! Ich sage nur, daß diese Fragestellung möglich sei.
Bei der kritischen Betrachtung der nationalen Phantasieschöpsung kommen neue historische Elemente in Betracht. Wir lernen die Weltmacht der Schönheit kennen; eines gewissen Hauches, der den Dingen und Ereignissen und Personen, über denen er liegt, die unbedingte Kraft verleiht, uns zu erfreuen und sie uns als Wirklich erscheinen läßt. Wir werden inne, daß die Natur dieses Hauches in verschiedenen Epochen nicht dieselbe war, sondern wechselte. Wir lernen die geistigen Revolutionen und Kriege kennen, die ausbrechen, um die Herrschaft dieses „Hauches" zu zerstören oder auch um die Gewalt, ihn als maßgebend zu decretiren, zu gewinnen. Das Zugeständniß seitens des momentan regierenden Publicums an eine bestimmte Person: das, was sie künstlerisch producire, sei „das Schöne", anderes Schöne damit um gewisse Grade niedriger gestellt oder ganz depossedirt, ist ein geistiges Gut, um das ganze Armeen von Betheiligten heute ringen. Es gab eine Zeit, wo Alles, was Cornelius schuf, bewundert wurde und seinen Gegnern tiefes Schweigen auferlegt war. Dann nahm Kaulbach feine Stelle ein. Auch dessen Werke heute ein gleichgültiger Anblick. Es handelt sich nicht bloß um geistige Güter hier: realer, greisbarer Gewinn und Verlust kann damit verbunden sein. Ich erinnere nur an den Krieg, der im Namen Wagner's heute geführt wird. Wie sehr es sich um eine Machtfrage handelt! In ähnlicher Art kämpfen in der heutigen Malerei und Sculptur die Realisten gegen die Idealisten. Bestellungen im Betrage großer Summen stehen hier auf dem Spiele.
Wie gewinnt man die Befähigung, hier das Wahre zu unterscheidend Und die, öffentlich dafür einzutretend Wäre es wichtig, für solche Kämpfe, bei denen es sich um so hohen Einsatz handelt, sich vorzubereiten? Man empfindet, daß das Publicum nicht jedem Schwätzer in die Hände fallen dürfe. Der moderne Kunsthistoriker hat die Aufgabe, auch hier einzutreten. Seine Aufgabe ist, die Natur dieser Kämpfe zu kennen, die Waffen führen zu lehren, mit denen sie aus- gefochten werden, die Sicherheit, sich den ringenden Mächten gegenüber mit eigenem Urtheile zu behaupten. Denn das Urtheil des Weltpublicums gibt den Ausschlag und Jeder ist als ein Theil desselben am Siegen oder Unterliegen der Parteien betheiligt. Wir stehen, was diese Bewegungen anlangt, jetzt vielleicht in den Anfängen von in früheren Zeiten nicht vorauszuseheuden Gewaltthaten. Rücksichten werden heute immer noch genommen, deren Umfang erst dann hervortreten wird, wenn sie einmal nicht mehr werden genommen werden. Wenn Majoritäten Solcher, die Phantasieschöpfungen Hervorbringen, sich mit den allgemeinen regierenden Gewalten ins Einvernehmen setzen, wenn sie die Minoritäten zü Boden drücken und das Publicum zwingen werden, „Schönheit" da zu erblicken, wo