Heft 
(1891) 66
Seite
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Vittoria Coloima.

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ziehen mochte und dessen übermäßigen Eifer sie erst einstellte, als Reginald Pole ihr Gewissensrath wurde. Die freiwillig gewählte Zurückgezogenheit und die Hingebung an die Werke der Nächstenliebe, deren Ausübung die Einfachheit ihres Lebens und ihre große Anspruchslosigkeit ihr in reichem Maße gestatteten, hinderten sie indessen nicht, den idealen Interessen treu zu bleiben, auf welche die ihr zu Theil gewordene Ausbildung, mehr noch die von ihr gesuchten und sorgsam gepflegten Beziehungen zu den besten Männern ihrer Zeit sie frühzeitig hingewiesen hatten. Vittoria war ein Kind ihrer Zeit im besten Sinne. Was die Renaissance an großen und der Menschheit bleibenden Ideen zugebracht hatte, war in ihren Geist eingedrungen: Kunst und Wissenschaft standen als freundliche Engel ihrer Einsamkeit zur Seite, und wer möchte diese Einsamkeit nicht beneiden, die aus das Geräusch einer frivolen und oberflächlichen Welt verzichtete, um sich des ausschließlichen Umganges mit Männern, wie Bembo und Sadolet, Giberti, Contarini, Morone, Reginald Pole, vor Allem mit Michelangelo, dem Unvergleichlichen, zu erfreuen, auf desfen beginnendes Alter Vittoria's Freundschaft einen Strom erwärmenden Lichtes ausgoß.Vor Allem," sagt Ascanio Condivi, des großen Künstlers Schüler und Biograph,liebte Michel­angelo die Marchesa von Pescara, deren göttlicher Geist ihn lebendig anzog und die auch zu ihm wärmste Zuneigung hegte. Von ihr besitzt er noch viele Briefe von der reinsten und süßesten Liebe, wie sie aus solchem Herzen zu kommen pflegen, während er eine Menge Sonette an sie gerichtet hatte, voll Geist und warmer Sehnsucht. Sie verließ wiederholt Viterbo und andere Orte, wohin sie sich zur Erholung und um den Sommer zuzubringen, begeben hatte, und kam nach Rom, um keines anderen Grundes willen, als um Michelangelo zu sehen." Der Geist entzündet sich am Geiste: wenn die Geschichte aller Literaturen reich ist an Belegen dafür, so gibt es wenige Beispiele, die herrlicher dafür zeugen als die poetischen Schöpfungen, welche aus den Beziehungen Vittoria's und Michelangelos wie ein Wechselgesang emporstiegen. Sie bilden den Höhepunkt reinster dichterischer Empfindung, den das 16. Jahrhundert in Italien aufweist, und stellen sich unbedingt dicht neben Dante und Petrarca. Hätte Vittoria Colonna keinen anderen Ruhmestitel aufzuweisen, sie wäre immerhin, neben Caterina da Siena, die erste Frau Italiens. Aber die große Seele dieses Weibes war noch von anderen Dingen erfüllt, und wenn ich die Dichterin bewundere, so reiche ich ihr auf einem höheren Gebiete dankbar die Hand.

Die Nothwendigkeit einer kirchlichen Reform war in Italien empfunden worden, lange ehe Luther kam. Seit dem 13. Jahrhundert hat die Erwartung des Papa Angelico die Gemüther in Spannung erhalten. Francesco d' Assisi hatte den Punkt getroffen, auf dem die Reform anzusetzen hatte, ohne sie für den gesammten Organismus der Kirche durchsetzen zu können. Dante war ihr Prophet geworden, die Träume der Franciscaner-Spiritualen waren zum Theil völlig unkirchliche Utopien, und ihre Lehre von der Leelesia earnalis und spiritualis konnte keinen Anspruch auf allgemeine Anerkennung gewinnen; aber sie umschloß in ihrer Opposition gegen die wachsende Verweltlichung der Kirche Ahnungen dessen, woraus es ankam. Dem Zusammentritt dieser weltlichen Tendenzen mit den territorialen Bestrebungen des Papstthums seit Mitte des