Heft 
(1891) 66
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Deutsche Rundschau.

jedenfalls zur Einseitigkeit; sie birgt aber auch die Gefahr in sich, daß jede Umbildung des Bestehenden, jede Fortentwicklung unterbunden, ja selbst die Kritik des Bestehenden und damit die Erkenntniß vorhandener Mängel ver­hindert werde, sofern die Erhaltung des Bestehenden den Interessen der Macht­haber entspricht.

Die Preßfreiheit dagegen gewährt die Möglichkeit einer vollen Entfaltung und Verwerthung aller in einer Nation vorhandenen geistigen Kräfte; sie ist die erste Bedingung, wenn eine Umbildung gegebener Verhältnisse von innen heraus sich vollziehen soll. Freilich kann eine solche Umbildung nun wie zum Guten, so auch zum Schlimmen gerathen, und auch die dazu verwandten Mittel selbst können von nachtheiliger Wirkung sein: neben der Preßfreiheit steht der Preß- mißb rauch oder, wie man in den Zeiten des Kampfes sich auszudrücken be­liebte, die Preßfrechheit; der öffentliche Meinungskampf kann zur Erregung wilder Leidenschaften, zur Verrohung, zu Gewalt und Verbrechen führen, öder­er kann selbst auf verbrecherische Weise geführt werden. So ist auch die Preß­freiheit nicht ohne Gefahren für das öffentliche Wohl.

Ob nun diese Gefahren der Preßfreiheit, ob jene Nachtheile der Censur die überwiegenden seien, das ist die Frage, welche dem langen Kampfe zwischen beiden Principien hauptsächlich zu Grunde gelegen hat.

Heutigen Tages kann diese Frage und dieser Kampf als durch die Geschichte entschieden gelten, und zwar entschieden zu Gunsten der Preßfreiheit. Und in der That konnte es nicht anders kommen.

Denn mag auch Art und Richtung der Entwicklung den einzelnen Völkern offen gelassen sein: daß sie sich entwickeln und fort- und umbilden, das ist für- alle eine naturgesetzliche Nothwendigkeit. Gegen die Gefahren dieses Entwick- lungsprocesses mögen sie sich wie immer zu schützen suchen; ein Mittel aber, welches, wie die Censur, geeignet ist, jeder Fortbildung hemmend in den Weg zu treten, wird von den vorwärts drängenden Kräften über kurz oder lang mit elementarer Gewalt über den Hausen geworfen werden.

Es soll nun im Folgenden meine Aufgabe sein, diesen historischen Entschei­dungskampf der beiden feindlichen Institute, soweit er sich in Deutschland ab­gespielt, in seinen Hauptzügen hier vorzuführen.

I.

So lange der geistige Verkehr der Menschheit auf mündliche und schriftliche Mittheilungen beschränkt war, hatte von einer präventiven Ueberwachung des­selben Seitens der öffentlichen Gewalt der Natur der Sache nach keine Rede sein können. Name und Sache der Censur war bis zur Erfindung der Buch­druckerkunst völlig unbekannt*). Und auch jetzt, als durch die Druckerpresse die Möglichkeit der Gedankenmittheilung und damit der geistigen Einwirkung auf

i) Die auf den mittelalterlichen Universitäten zum Theil von besonderen Beamten geübte Controle über die zu verkaufenden und zu verleihenden Handschriften bezog sich nur auf die Correctheit der Abschriften und steht mit der späteren Censur des Inhaltes der Schrift­werke in keinem Zusammenhang.