Heft 
(1879) 26
Seite
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Anton Rubinstein.

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Nichtsdestoweniger können die oben angeführten Fragen nicht ganz ignorirt werden. Denn sie drängen sich nicht blos dem Betrachtenden auf, sondern sic stehen fast bei allen Beurtheilungen, den rein wissenschaftlichen, den der Tagcskritiken, und bei den in Kunst- oder Salon-Gesprächen ver­kommenden im Vordergründe. Die .Jdeefi die ethische Grundlage, die Tendenz das reine Kunstsener, die sittliche Haltung: anderseits die Befreiung der Kunst von ästhetischer Polizei, vom hergebrachten Formenwesen, die Beseitigung der absoluten Musikmachcrei, das Recht des Genius, der Selbstzweck des Mcnschcnthums, der Mensch in seiner Urschönc, In bolnmro niäKtchus, und wie alle die Dinge noch heißen mögen, sie geben gar oft den Maßstab für die Beurtheilung der künstlerischen Leistung, mehr als die eigentlichen Kunst- gcsetze. Stichworte sind nur zu oft die Grundlagen der Urtheile, und das Können, das künstlerische Vermögen, kommt da erst in zweiter Reihe. Daß nun das viel lesende Publikum in solcher Weise urtheile, kann nicht verwunderlich, auch nicht tadelnswerth erscheinen. Eine andere Frage ist die, ob die Künstler selbst sich dem schreibenden Parteiwesen anschließen, es unterstützen, ob sie das Kunstwerk als Ausfluß einer geistigen und entwickelten Anlage betrachten sollen oder als Product der Tendenz, die sich zur eigenen Geltend­machung der Farben oder der Klänge bedient? Die sittliche Bedeutung der Kunst leugnen ist unsinnig, denn jedes Kunstwerk ist der Ausfluß der Zeit- Ideen, die der Künstler, je nach seinen Anlagen (nicht nach seinem Wollen) läutert und hoher trägt, oder trübt und erniedrigt. Aber die sittliche Bedeutung als Maßstab für die Beurtheilung des Kunstwerkes anzunehmen, ist ein größerer Unsinn. Jedes wahrhaft bedeutende Kunstwerk befördert die Sittlichkeit insofern, als es den Geist vom Gemeinen abzieht und zum Zusammen­sassen alles Denkens auf einen ästhetischen Gegenstand zwingt, dessen End­zweck eben das Nützliche nicht ist; jedes Kunstwerk unterliegt Gesetzen, die sich ans der Natur der Kunst, der es angehört, selbstständig entwickelt haben, die immer und immer erweitert, niemals ganz umgestoßen werden können. So lange diese Anschauungen einigermaßen festgehalten werden, so lange man versucht nicht blos von oben nach unten Aesthetik zu decretiren, sondern von unten nach oben aufsteigend Gesichtspunkte zu gewinnen, so lange wird man auch einen Maßstab für die Erscheinungen in der Kunstwelt finden und handhaben können Z; von den: Augenblicke an, als man an die Beurtheilung der Kunst­werke mit vorgebildetcn Begriffen herantritt, die nicht aus den reinen Merk­malen der Kunst selbst gebildet find, geräth man in eines der zwei großen Lager, in welche wir jetzt das musikalische Deutschland zersplittert sehen, davon jedes für sich das rechte Knust-Princip in Anspruch nimmt. Für den Verfasser dieser Studie, der eben in keinem der Lager Dienste genommen und seine Unabhängigkeit vollständig gewahrt hat, ist es eine angenehme Aufgabe, den

K Vergleiche KantsKritik der Ilrtheiiskraft" über den Geschmack K 13 und 16, und Fechncrs vortrefflicheVorschule der Aesthetik", Seite 47.