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6. Ehrlich in Berlin.
Leser zu einigen Betrachtungen über einen genialen Tonkünstler anzuregen, der ebenfalls, sowohl als Componist wie Clavierspieler, als Parteiloser dasteht, von keiner Partei unterstützt wird, ohne irgend welchen vorgefaßten Grundsatz nur den Regungen seines künstlerischen Naturells folgt, und seine glänzenden Erfolge nur den Leistungen und einer außerordentlich interessanten Persönlichkeit verdankt: Anton Rubinstein.
Ein Künstler, der schon als Knabe überall ungemeines Aufsehen erregte, und der nun als Mann seit etwa fünfundzwanzig Jahren, sowohl als ausübender, wie als schaffender Musiker, große und erfolgreiche Thätigkeit entwickelt, ist eine Erscheinung, Werth, daß man sich eingehend mit ihr beschäftige, und sie nach allen Seiten hin prüfe, die Schwächen nicht verschweige, aber auch das Gute gebührend und mehr hervorhebe, als bisher geschehen ist. Denn während Rubinstein als Pianist allüberall höchster Anerkennung und prüfungslosem Enthusiasmus begegnet, steht er als Componist oft bedingungslos verwerfender Kritik gegenüber. Und daher wird diese Studie sich noch mehr mit dem Componisten beschäftigen, als mit dem ausführenden Musiker, dem neues Lob wenig Noth thut.
Es ist eine höchst interessante und bedeutsame Erscheinung, daß die Lehrer unseres Künstlers einer anderen Richtung angehörten, als er selbst vertritt. Herr Villoing, der ihm ersten Clavierunterricht gab, war gewiß ein recht tüchtiger Musiker, aber es ist kein Anzeichen von ihm geblieben, daß er ein glänzender Spieler gewesen, oder daß er der Ausbildung der Technik solch gründliche und ausgedehnte Lehrthätigkeit widmete wie Clementi und Czerny zu ihrer Zeit. Dehn, bei welchem Rubinstein Compofition studirte, war nichts weniger als ein schwungvoller „Tondichter", aber ein ausgezeichneter und sehr gründlicher Lehrer des Contrapunktes, der für andere Formen als die strengen wenig oder gar keine Sympathien hegte, und gegenüber der neuen Schule, zu welcher er Schumann, ja theilweise sogar Mendelssohn rechnete, eine gleichgültige, wenn nicht ablehnende Haltung beobachtete. Nun besitzt aber Rubinstein als Pianist die weitest ausgebildete, die umfassendste Technik, als hätte er des größten Virtuosen Unterricht genossen; ja sein Vortrag erinnert oft am meisten an den LißtsH; aber als Contra - punktist wird er auch von seinen wärmsten Freunden nicht als einer aus der Dehnffchen Schule erkannt werden, und wäre vielmehr als von einem „Modernen" gebildet zu betrachten. So sehen wir auch hier die alte Erfahrung bewährt, daß starke und reich angelegte Naturen ihren eigenen Weg gehen, und in ihrer Entwicklung durch äußere Einflüsse nur wenig bestimmt werden, vielmehr das Aeußere sich unterthan machen. Rubinstein widmete sich bis zum sechzehnten
Z Ist es nicht sonderbar, daß gerade die bedeutendsten Schüler Lißts, Bülow und Tausch, bei all' ihren hochkünstlerischen Leistungen doch nur wenig bieten, was direct von ihrem Lehrer stammt, und ihre ganz eigene Vortragsweise ausgebildet haben, wahrend gerade der Künstler, der Lißts Unterricht nicht genossen hat, am meisten an ihn erinnert?