Anton Rubinstein.
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Jahre vorzugsweise dem Clavierspiele; obwohl er schon Jugendcompositionen veröffentlicht hatte, waren seine Eltern und er selbst durchaus nicht überzeugt, daß ihm ein so bedeutendes schöpferisches Talent innewohnte; ja es gab eine Zeit, allerdings von kurzer Dauer, in. der sein Bruder Nieolaus als der für Composition Begabtere erschien; dieser lebt heute als Director des Conservatoriums in Moskau, ist ein vortrefflicher Clavierspieler, hat aber den Nus eines Componisten gar nicht angestrebt. In Anton erwachte das Bewußtsein seiner Kraft in der Mitte der vierziger Jahre. Er hatte seinen Vater verloren, der vielleicht der, rasche Erträgnisse bringenden, Virtuosität des Sohnes die meiste Aufmerksamkeit znwenden mochte; der junge verwaiste Künstler war aus sich selbst angewiesen, reiste im Verein mit dein (schon lange gestorbenen, höchst genialen) Flötisten Haindl in Ungarn umher, fand ui diesem ziel- und planlosen Leben keine Befriedigung, und ließ sich in Wien nieder, wo er unter bescheidensten Verhältnissen als Musiklehrer wirkte. In jener ernsten Zeit sammelte sich sein Geist zu ernstem Wirken; er widmete der Virtuosität weniger Aufmerksamkeit, und begann sich in Liedern und größeren Clavierwerken zu versuchen; so wurde er seines Werthes inne. In jener Wiener Zeit, in jener Abgeschlossenheit ward zuerst die Fantasie unsers Künstlers rege, die seither in immerwährender Thätigkeit, fast in ungestümein Drange Werke aus Werke häuft. Nach zwei Jahren verließ er Wien und ging nach Berlin, im Jahre 1848 nach seinem Vaterlande, nach Petersburg. Hier gewann er allmählich den Boden, aus welchem er in angenehmeren Verhältnissen, mit Muße die Ausarbeitung größerer Compositionen unternehmen konnte. ' Die Großfürstin Helene, jene unvergeßliche unersetzliche Freundin und Beschützerin der Kunst, erkannte sein Genie, und lud ihn auf ihr Schloß Kamenoi Ostrow, das er später in seinem Opus 10 verherrlicht hat: „Clbnrn <to xortrait8", 24 Stücke, deren jedes einen Frauennamen als
Inschrift trägt, den der Großherzogin, ihrer Töchter und der Hofdamen.
Fünf Jahre verlebte der junge Künstler mit kurzen Unterbrechungen im Vaterlande, immerwährend schaffend, bis er endlich im Jahre 1854 sich entschloß, seine Laufbahn als Componist in Deutschland zu beginnen. Er kam nach Leipzig. Dort erinnerten sich noch Viele eines genialen Clavier spielenden Knaben Anton Rubinstein, der auch noch später manchmal Concerte gegeben hatte. Aber von einem Componisten Rubinstein ahnte Niemandem Etwas, und die Verleger blickten erstaunt und mißtrauisch auf die großen Kisten mit Manuscripten, die der Neuangekommene in seinen Zimmern stehen hatte. Doch der ließ sich nicht beirren. Er veranstaltete ein Concert für geladene Gäste, führte eine Armee von Trios, Duos, Sonaten u. s. w. in das musikalische Feld; und am selben Abende war er ein berühmter Mann in Deutschland. Denn Leipzig, dessen Urtheil noch jetzt bedeutenden Einfluß übt, war damals die Stadt, welche die Künstler-Diplome sür Deutschland, theilweise selbst für England, verlieh. Bald nach diesem Ereignisse trat Rubinstein im Gewandhausconeert auf, als Componist und als ausübender Künstler; seine Ocean-Symphonie