Heft 
(1879) 26
Seite
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Ehrlich in Berlin.

thümlichen organischen Gesetzen geregelt werden, die wenn auch latent, doch iin entscheidenden Momente maßgebend hervortreten. Hof, Adel und Bürger­thum eines großen Staates, sie folgen in ihrer Lebensweise, ihren Meinungen, ihren gerechten Urtheilen und ungerechten Vorurtheilen, in ihren Neigungen und Abneigungen gewissen physischen und moralischen Nrgesetzen, die sich in ihrer geschichtlichen Entwicklung nach und nach erweitert haben, deren Grundlage aber dieselbe bleibt. Die Oberfläche ändert sich vielfach, nicht der Boden, und was seiner Eigenschaft nicht entspricht, und durch künstliche Mittel emporgetrieben wird, das vergeht bald. Und was im nationalen Leben gilt, das ist auch für die Kunst bestimmend. Die Kunstwerke sind nicht zu trennen von dein Boden und der Zeit, aus welchem und in welcher sie entstanden sind. Der größte Künstler ist der, welcher die Ideen seiner Zeit am höchsten getragen hat, er ist der geistige Samen, der sich am besten entwickelt hat. Taine in seinem vortrefflichen BucheUüilosopüis cks 1'art" zeigt, wie jeder große Künstler, dessen Werke wir jetzt bewundern, nur der Hervorragendste einer Gruppe von zeitgenössischen Künstlern war, die über ihm vergessen worden sind; wie jedes Kunstwerk mit den Ideen und den Sitten seiner Zeit in einem inneren Zusammenhänge steht, und wie die Umgebung, irr welcher es entstanden ist, von großem Einflüsse war. Der Künstler behandelt den Stoff je nach seinen Gaben und seinem ganzen Naturell; will er jedoch bei der Behandlung allen von der Natur bestimmten Einflüssen der Umgebung, der nationalen Ideen u. s. w. sich gewaltsam entziehen, aus den künstlerischen Traditionen seiner Nation heraustreten, und sich fremden Stil aneignen, dann wird er, wenn mit Talent begabt, geistreiche, interessante Manier erfinden, aber nicht ein bleibendes Kunstwerk schaffen. Rubinstein hat nach seiner Rückkehr von der oben erwähnten Kunstreise (1857) zehn Jahre fast ununter­brochen in Petersburg gelebt. Sein eigentlicher Wohnsitz ist auch jetzt noch daselbst, oder vielmehr ein ihm gehöriges, in der Nähe der Hauptstadt liegendes Landgut. Aber während er daselbst nur den Sommer verbringt, im Winter dagegen nach anderen Ländern reiset, hat er während jener zehn Jahre zwei künstlerische Aemter verwaltet, die ihn gerade im Winter an die Hauptstadt banden. Er leitete die Concerteder Musikalischen Gesellschaft" und war Director des vom Staate errichteten Conservatoriums. Jene, aus Mitgliedern des Adels­und Finanzaristokratie gebildet, hatte sich das Ziel gesteckt, die Musterwerke aller Zeiten aufsühren zu lassen, und alle bedeutenden Künstler anzuwerben, dieses sollte eine Pflanzschule für russische Tonkünstler werden. Man muß sich nun die Ausdehnung der Thätigkeit einer solchen Stellung und besonders deren gesellschaftliche Bedeutung vergegenwärtigen, um darnach die Einwirkung auf Rubinstein's künstlerisches Sein und Schaffen zu ermessen. Rußland ist der jüngste Civilisations-Staat von Europa, so auch seine Gesellschaft. Aber wie jener in dem kurzen Zeiträume von kaum 150 Jahren durch Waffengewalt und unvergleichliche Kunst der Diplomatie eine Höhe erreicht hat, daß er noch in einer nicht fernliegenden Periode großen Einfluß auf manche Regierungen üben.