Heft 
(1879) 26
Seite
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Anton Rn bin st ein.

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daß er selbst noch in jüngster Zeit Unglaubliches unternehmen und durchfuhren konnte, so auch hat sichdie Gesellschaft" in einer Weise entwickelt, daß stein der Geschicklichkeit und Eleganz der Formen, im Raffinement der geistigen und physischen Genüsse, sich der von ältesten Staaten gleichstellen darf. Ja, in einen: Punkte steht sie als ein Unicum in der Culturgeschichte da. Man sollte doch gewiß meinen, daß eine Gesellschaft, die ihre Bildung nicht wie die anderer Nationen aus dem Boden des eignen nationalen Lebens gezogen hat, sondern nur ans der Literatur^) und Kunst anderer Länder sich aneignen mußte, daß eine solche Gesellschaft vollständig kosmopolitisch denken und fühlen, überall heimisch sein, in jedem Lande sich zurecht finden mußte. Das voll­ständige Gegentheil entspricht der Wahrheit. Keine Nation der Welt besitzt solche Leichtigkeit fremde Sprachen zu lernen und mit Sicherheit handzuhaben, deren Literatur auszufassen, sowie die Meisterwerke fremder Kunst zu erkennen, gleich den Russen keine Nation ist je in ihrem Denken und Trachten von den Einflüssen fremder Civilisation unberührter geblieben, als der elegante Russe. Mag er für deutsche oder italienische Musik schwärmen, englischer oder französischer Literatur den Vorzug geben, realistischer oder idealistischer Malerei seine Neigung schenken; mag er philosophische Ansichten und Phrasen aus Hegel oder Schopenhauer schöpfen (das Letztere ist meistens der Fall): die Eindrücke, die er von der Kunst und Wissenschaft empfängt, werden an seiner ursprünglichen Sinnesart nichts ändern, seine Denk- und Empfindungs- Weise wird immer dieselbe bleiben; er betrachtet Welt und Menschen nicht mit dein Auge des gebildeten Mannes, der bei allen: Geschehenen einer inneren Nothwendigkeit nachforscht, der die Geschichte als eine Reihe solcher Nothwendig- keiten ansieht, und aus der Erkenntniß der menschlichen Natur die Ueber- zeugung schöpft, daß nur das Streben nach dem Guten einigermaßen Befriedigung gewahrt, und daß die Kunst allein im Stande ist, das Schöne mit dem Guten insofern zu verbinden, als sie momentan den Geist von niedrigeren Regungen fern hält und zur Schätzung einer Erscheinung um ihrer selbst und nicht um des relativen Nutzens willen anregt; der gebildete Russe betrachtet Welt und Menschen als ein zielloses Entstehen und Ver­gehen, dem nachzuforschen eitle Mühe wäre; die Kunst ist ihm die angenehmste Abwechselung geistig-sinnlicher Anregung und Aufregung nach blos materiellem Genüsse, und was moralische Grundsätze betrifft, so lehrt ihn die Geschichte seines Landes, in dessen innerer Entwicklung, wie in den Beziehungen zu anderen Ländern, daß Ausdauer, Energie und gänzliche Unbekümmertheit um alles Andere am sichersten zum Ziele führt; er ist auch überzeugt, daß seinen: Lande die Zukunft gehört, und in dieser Ueberzeugung trifft der

9 Ich verwahre mich gegen einen etwaigen Verdacht, als' wollte ich die großen Dichter und die Gelehrten russischen Stammes ignoriren. Doch wird auch ein Ultra- Panslavist nicht leugnen können, daß das eigentliche Studium der Wissenschaften und Künste in Rußland aus den Grundlagen der ausländischen Civilisation beruht.

Nord und Süd. IX, 26. 15