Heft 
(1879) 26
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6. Ehrlich in Berlin.

allereonservativste Russe mit dem überspanntesten Nihilisten zusammen. In früheren Zeiten, bis gegen die Mitte der fünfziger Jahre, mag das altadelige deutsch-russische Element, das damals in den höchsten Beamten- und Militär-Regionen stark vertreten war, einigermaßen mildernd gewirkt, eine kühlere Temperatur in den Anschauungen und Tendenzen erhalten haben schon der Umstand, daß der größte Theil des Adels aus den Ostseeprovinzen protestantisch ist, spricht für die Richtigkeit dieser Vermuthuug-, aber seit den letzten fünfundzwanzig Jahren, ist es den Anstrengungen von zwei verschiedenen Seiten gelungen, dieses Element immer mehr zu verdrängen; das specisische Russenthum hat die Oberhand gewonnen, es vereinigt die widerstrebcudsten, politischen Elemente, durchdringt alle Schichten der Bevölkerung und findet entschiedensten Ausdruck in der eleganten Gesellschaft der Hauptstadt.

Daß die russische Gesellschaft die denkbar angenehmsten Formen besitzt und dem Künstler die beste Aufnahme bietet, ist bereits gesagt worden, und daß sie unserem Künstler mit Enthusiasmus und Verehrung entgegen kam, muß selbstverständlich erscheinen. Gehörte er doch zu ihr; er ist Russe, genießt europäische Berühmheit, bekleidete eine staatliche Stellung und ist, was sehr schwer wiegt, mit einer hochachtbaren und liebenswürdigen Dame aus sehr guter russischer Familie verheirathet. Wenn nun der Künstler Jahre hin­durch in fast ununterbrochenem und ausschließlichem Verkehr mit einer Gesell­schaft von so entschiedener Richtung lebte, so läßt sich zwar nicht behaupten, daß sie seinem musikalischen Wirken einen besonder:: Stempel aufprägen konnte denn hierzu waren seine Gaben zu mächtig, zu eigenthümlich; aber nicht zu leugnen ist, daß manche seiner Gaben sich mehr nach der Seite entfalteten, ans welcher sie bereitwilligste Bewunderung fanden, daß andere einer stärkeren Anstrengung bedurften, um zur vollen Thätigkeit zu gelangen. Es muß hier noch ein Anderes festgestellt werden: Das Kunstwerk ist in erster Reihe ein Product der individuellen Anlage; die Idee, die Erfindung, auch die Arbeit ist alleiniges Eigenthnm des Künstlers; aber gewisse Färbungen, die Formen der Entwicklung, auch manche äußerliche aber charakteristische Wendungen, stehen unter den: Ein­flüsse der Umgebung. Bach hätte auch in Italien nur strenge und hehre Werke geschaffen, aber die herbe Größe mancher seiner Composition ist vom Leben inmitten eines streng protestantischen Bürgerthums untrennbar, sowie der Auf­enthalt Händels in Italien und der Umstand, daß er für italienische Sänger in England componirte, viel beitrug zu der glanzvollen Schönheit seiner Gesänge. Haydn, Mozart, Beethoven und Schubert, sie haben Jeder einen ganz eigenen Styl, aber österreichische und ungarische Weisen klingen öfters in ihren Werken durch. Das Leben und Wesen des Landes, in welchen: der Künstler bleibend wohnt, wird manchem seiner Werke ein Colorit verleihen, das eben nur als ein locales zu bezeichnen ist, die Verwendung ist des Künstlers Kunst. Es kann auch nicht genug betont werden: der Künstler steht mit seiner Umgebung im Einklänge oder im Widerspruche; aber dieser Widerspruch ist nur dann ein ganz natürlicher und berechtigter, wenn er auf gleichen: