Heft 
(1879) 26
Seite
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Anton Aubinstein.

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Boden kämpft, die nationale Grundlage nicht verläßt, wenn er, um eine alle Phrase der Logik zu gebrauchen, Contradietorisches nicht aber Conträres anstrebt. Der deutsche Componist, der um die neudeutsche Dichtung zu bekämpfen, in seinen Werken italienische Melodik anwenden wollte, wird einfach lächerlich erscheine:!. Und als der geniale, edel denkende Berlioz in der Opposition gegen den Pariser Geschmack, anstatt diesen läutern zu wollen, Alles unternahm, was dem französisch musikalischen nationalen Kunstgeiste, der Klarheit und Leicht­faßlichkeit der Form, der strammen Gruppirung, den kurzen Rhythmen, der Neigung znm eleganten Ausdruck der Empfindung ganz und gar widersprach, da hat er nach meiner Ueberzeugung einen Jrrthum begangen schuf weder Deutsches noch Französisches: Geistreiches, hoch Interessantes, Geniales, aber als Kunstwerk nicht Einheitliches; wohl strebte er nach aufwärts und berührte mit dem Scheitel die Wolken"; aber dieunsicheren Sohlen" ermangelten des nationalen Bodens.

Nnbinstein hat nun eine Reihe von Jahren in einer Stadt und in einer Gesellschaft gelebt, die bei allem Geistreichthun: dennoch Anregungen zur musikalischen Productivität nicht verleihen kann, weil ihr künstlerisches Leben ein künstlich erzeugtes, nicht aus dem nationalen Boden hervorquellendes ist. Man hört zwar in Petersburg die besten und theuersten italienischen und deutschen Säuger, auch alle berühmten Instrumental-Virtuosen; inan hat ein ausgezeichnetes Orchester, das die Meisterwerke alter und neuer Componisteu vortrefflich wiedergibt; Wagner und Berlioz find in Petersburg ebenso enthusiastisch ausgenommen worden, als in Deutschland, und man hat in den Petersburger Salons die Principien des Musikdramas gewiß mit ebenso viel Feuer und Geist besprochen, als in irgend einem deutschen aristokratischen Zirkel. Aber von: rein künstlerischen Standpunkte betrachtet, verhält sich das musikalische Leben Petersburgs zu den: anderer Städte wie das Bad in einem Bassin zu den: im fließenden Wasser und in freier Luft. Jenes ist viel bequemer, sehr behaglich, oft luxuriös eingerichtet und gewährt Schutz vor Zugluft und Witterungswechsel; dieses verlangt eine gewisse Kraft und Widerstandsfähigkeit des Körpers, Sicherheit des Schwimmens und ist auch manchmal gar nicht bequem aber für die Gesundheit ist die Wirkung jenes mit diesen: nicht vergleichbar. So auch läßt sich behaupten, daß der Aufenthalt in einer kleineren Stadt, die aber ein reges organisches Musikleben besitzt, ein künstlerisch gesünderes ist, als das einer Großstadt, die so zu sagen nicht aus sich heraus Musik macht. Und was ich hier von Petersburg sage, gilt ebenso gut von London. Die Themsestadt birgt so viel regen Sinn für Musik als irgend eine, ja man hört dort noch viele ältere Compositionen, die schon lange von deutschen Concert-Programmen verschwunden sind; aber sie bezieht ihren Tonkunst-Bedarf eben aus fremder Quelle, und seit gar langer Zeit ist kein bedeutendes großes Musikwerk in England entstanden. Bei der Betrachtung solcher Verhältnisse muß man staunen über die Anzahl großer und Bedeutendes enthaltender Werke, welche Rubinstein während der

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